In unberührtem Schnee liegt ein kleines Haus: ein Fenster an jeder Seite, vielleicht drei Zimmer im Innern, aus grauen Steinen, wie man sie im Acker findet.
An einer Seite ein Anbau zum Fluss runter, an dem sich ein Mühlrad dreht – das Eis auf dem Fluss unten ist weggeschlagen worden. Der Weg zur Straße ist freigeschaufelt, und darüber nähert sich ein leichtes militärisches Gefährt, wie man sie für schnelle oder unauffällige Einzelmissionen einsetzt.
Der Fahrer ist ein junger Mann aus der nächsten Stadt, und in seinem Mantel hat er ein Paket, das sein Vorgesetzter einem weit entfernten Kameraden zu Weihnachten schenken will.
Man hat ihn erst vor kurzem eingezogen, und eigentlich war er immer mit buchhalterischen Aufgaben beschäftigt gewesen, aber für diesen Botendienst war leider grade kein Anderer abkömmlich gewesen. Außerdem hatte er sich immer als sehr zuverlässig und diszipliniert erweisen, und klug.
Er hatte auch sehr darauf geachtet, genau so zu erscheinen, damit man ihn im Büro für wertvoller erachten würde als im Feld. Seine Briefe an die ehemaligen Kommilitonen waren immer sehr bedacht geschrieben, und ordentlich – die Spitzel beim Postdienst schlossen dadurch auf eine ausgeglichene Persönlichkeit, und ihm selbst ermöglichte der große Zeilenabstand, einen zweiten, weniger bedacht formulierten Brief dazwischen zu schreiben, den der Empfänger erst sichtbar machen musste.
Er war kein Spion, nur einer, der gerne selber dachte. Und er wollte sich die Möglichkeit offenhalten, vielleicht noch zu einem Spion zu werden, je nachdem, was er im Bürodienst noch so alles erfahren würde. Bislang hatte noch nie eine vertrauliche Information herausgegeben.
Eine Alternative zu solchen Geheimbriefen, wie er sie schrieb, war zum Beispiel das Verstecken einer Botschaft in einem größeren Paket. Dafür brauchte man nur einen glaubhaften Vorwand für ein Paket. Dass aber z.B. ein Brigadier einem Feldwebel über eine Strecke von drei Tagesreisen zu Weihnachten ein Rasiermesser schickte, das war schon eher wenig glaubhaft. Als er bei der ersten Rast auf ruhigeren Straßen sein Paket hervorgeholt und die Verpackung zurückgeschlagen hatte, fand er die Klinge in Papier eingeschlagen – Packpapier, das schon, aber trotzdem als Verpackung für ein Rasiermesser völlig unsinnig – und erfuhr mit etwas Mühe und Zeit, dass der Feldwebel angewiesen wurde, seine Einheit schnellstmöglich zur Stadt zurückzuführen, und nur genug Mann an der Position zu lassen, um für den Feind den Eindruck zu erwecken, dass sie nicht verlassen sei. Wenn der Feind sie dann einnehme, könne man ihm in den Rücken fallen. Man lasse Vorsicht walten bei der Auswahl derer, die in der Stellung bleiben sollten: Diszipliniert müssten sie sein, aber nicht zu wertvoll für die Truppe, schließlich gingen sie höchstwahrscheinlich verloren.
Das bedeutete: ein unsinniger Marsch zur Stadt und kurz danach wieder zurück raus für die Soldaten, Einquartierungen auf dem Weg, die die lokalen Bauern viele Vorräte kosten würden und infolgedessen sicher im weiteren Verlauf des Winters ein paar Leben, und bei der Schlacht um die Wiedergewinnung der Position vorne nochmal viele Tote: mit Sicherheit fast alle der Zurückgelassenen und wahrscheinlich auch viele unter den Nachgerückten. Es war riskant, denn man musste genau im richtigen Moment zu Hilfe kommen: während der Kampf gerade im Gange war. Wenn der Feind die Stellung erobert hatte, kam man zwar von hinten, aber wäre trotzdem in einer extrem verschlechterten Situation. Ob man die Bewegungen des Feindes so genau kannte, wusste der Bote nicht. Ohne diese Information konnte er nicht selbst urteilen, also musste er davon ausgehen, dass der Brigadier mit diesem Befehl sinnvoll handelte.
Das kleine Haus im Schnee lag still vor ihm, und es wurde Abend. Er klopfte an die Tür und versicherte, dass er allein sei, und wurde schließlich eingelassen.
Man bot ihm Suppe an, setzte ihn ans Feuer, trocknete seine Kleidung und machte ihm ein Bett, aber fragte nichts.
Diese Straße war es, über die die Truppe kommen würde, und sie würden auch an dieser Mühle vorbeikommen.
Sein Mantel mit dem Paket hing neben dem Kamin an der Wand.
Dieses Haus lag perfekt einen Tagesmarsch hinter der Stadt, spätestens beim Rückweg würde man sich hier einquartieren. Man würde sich mit dem Holz dieser Müllersfamilie wärmen und mit ihren Decken. Das Bett, das er gerade angeboten bekommen hatte, würde er vielleicht wieder bekommen, um nachts noch Diktate des Brigadiers mitschreiben zu können, und der Brigadier selbst nähme das Bett des Müllerspaars. Dann würde man gehen, und das Haus wieder für die Zivilisten freigeben, falls sie noch da wären.
Aber das wären sie nicht. Sie würden weggegangen sein, um nicht zu erfrieren. Sie hätten sich möglichst früh auf den Weg zur Stadt gemacht, um dort nachts halb erfroren anzukommen und sich von dort an durchzubetteln.
Und die Stadt wäre gerettet, denn die Stellung weiter vorne wäre gehalten worden. Nein, falsch: Zurückerobert. Gehalten wurde sie ja jetzt gerade von einer vollen Besatzung, die dem Angriff bestimmt auch standhalten konnte, zumindest dann, wenn der Brigadier mit seinen Soldaten noch zu Hilfe käme. Aber nach dem Plan des Brigadiers würde er nicht eine besetze Stellung verstärken, sondern einer unterbesetzten, umkämpften und praktisch schon verlorenen Stellung im letzten Moment zu Hilfe kommen, um sie zurückzuerobern: Kühn. Ruhmreich. Und er würde Kommandant werden.
Man bot dem Boten einen Nachschlag an. Die Suppe, die er bekam, war dicker als die der Müllersfamilie.
Er bekam einen Nachschlag angeboten, aber lehnte ab: er wolle niemandem unnötig zur Last fallen. Der Müller antwortete, ab wann ihm jemand zur Last falle, das entscheide er, aber er lasse niemanden hier hungrig.
Draußen lag Schnee, nichts rührte sich. Drinnen saßen Müller, Müllerin und Bote am Kamin und schwiegen. Der Bote fragte den Müller nach Papier, irgendeinem alten Stück Packpapier. Als das ihm zugesichert wurde, schickte er den Ältesten des Müllerpaars zu seinem Mantel um das Paket zu holen. Mit der größten Sorgfalt packte er Rasiermesser aus und schlug es neu in das Papier des Müllers ein, und den geheimen Brief warf er ins Feuer.
Niemand fragte etwas, und sie sahen sich niemals wieder. Aber der Bote wurde in einem anderen Land zu einem gefeierten Diplomaten, und der Müller sah noch seine Urenkel.
An einer Seite ein Anbau zum Fluss runter, an dem sich ein Mühlrad dreht – das Eis auf dem Fluss unten ist weggeschlagen worden. Der Weg zur Straße ist freigeschaufelt, und darüber nähert sich ein leichtes militärisches Gefährt, wie man sie für schnelle oder unauffällige Einzelmissionen einsetzt.
Der Fahrer ist ein junger Mann aus der nächsten Stadt, und in seinem Mantel hat er ein Paket, das sein Vorgesetzter einem weit entfernten Kameraden zu Weihnachten schenken will.
Man hat ihn erst vor kurzem eingezogen, und eigentlich war er immer mit buchhalterischen Aufgaben beschäftigt gewesen, aber für diesen Botendienst war leider grade kein Anderer abkömmlich gewesen. Außerdem hatte er sich immer als sehr zuverlässig und diszipliniert erweisen, und klug.
Er hatte auch sehr darauf geachtet, genau so zu erscheinen, damit man ihn im Büro für wertvoller erachten würde als im Feld. Seine Briefe an die ehemaligen Kommilitonen waren immer sehr bedacht geschrieben, und ordentlich – die Spitzel beim Postdienst schlossen dadurch auf eine ausgeglichene Persönlichkeit, und ihm selbst ermöglichte der große Zeilenabstand, einen zweiten, weniger bedacht formulierten Brief dazwischen zu schreiben, den der Empfänger erst sichtbar machen musste.
Er war kein Spion, nur einer, der gerne selber dachte. Und er wollte sich die Möglichkeit offenhalten, vielleicht noch zu einem Spion zu werden, je nachdem, was er im Bürodienst noch so alles erfahren würde. Bislang hatte noch nie eine vertrauliche Information herausgegeben.
Eine Alternative zu solchen Geheimbriefen, wie er sie schrieb, war zum Beispiel das Verstecken einer Botschaft in einem größeren Paket. Dafür brauchte man nur einen glaubhaften Vorwand für ein Paket. Dass aber z.B. ein Brigadier einem Feldwebel über eine Strecke von drei Tagesreisen zu Weihnachten ein Rasiermesser schickte, das war schon eher wenig glaubhaft. Als er bei der ersten Rast auf ruhigeren Straßen sein Paket hervorgeholt und die Verpackung zurückgeschlagen hatte, fand er die Klinge in Papier eingeschlagen – Packpapier, das schon, aber trotzdem als Verpackung für ein Rasiermesser völlig unsinnig – und erfuhr mit etwas Mühe und Zeit, dass der Feldwebel angewiesen wurde, seine Einheit schnellstmöglich zur Stadt zurückzuführen, und nur genug Mann an der Position zu lassen, um für den Feind den Eindruck zu erwecken, dass sie nicht verlassen sei. Wenn der Feind sie dann einnehme, könne man ihm in den Rücken fallen. Man lasse Vorsicht walten bei der Auswahl derer, die in der Stellung bleiben sollten: Diszipliniert müssten sie sein, aber nicht zu wertvoll für die Truppe, schließlich gingen sie höchstwahrscheinlich verloren.
Das bedeutete: ein unsinniger Marsch zur Stadt und kurz danach wieder zurück raus für die Soldaten, Einquartierungen auf dem Weg, die die lokalen Bauern viele Vorräte kosten würden und infolgedessen sicher im weiteren Verlauf des Winters ein paar Leben, und bei der Schlacht um die Wiedergewinnung der Position vorne nochmal viele Tote: mit Sicherheit fast alle der Zurückgelassenen und wahrscheinlich auch viele unter den Nachgerückten. Es war riskant, denn man musste genau im richtigen Moment zu Hilfe kommen: während der Kampf gerade im Gange war. Wenn der Feind die Stellung erobert hatte, kam man zwar von hinten, aber wäre trotzdem in einer extrem verschlechterten Situation. Ob man die Bewegungen des Feindes so genau kannte, wusste der Bote nicht. Ohne diese Information konnte er nicht selbst urteilen, also musste er davon ausgehen, dass der Brigadier mit diesem Befehl sinnvoll handelte.
Das kleine Haus im Schnee lag still vor ihm, und es wurde Abend. Er klopfte an die Tür und versicherte, dass er allein sei, und wurde schließlich eingelassen.
Man bot ihm Suppe an, setzte ihn ans Feuer, trocknete seine Kleidung und machte ihm ein Bett, aber fragte nichts.
Diese Straße war es, über die die Truppe kommen würde, und sie würden auch an dieser Mühle vorbeikommen.
Sein Mantel mit dem Paket hing neben dem Kamin an der Wand.
Dieses Haus lag perfekt einen Tagesmarsch hinter der Stadt, spätestens beim Rückweg würde man sich hier einquartieren. Man würde sich mit dem Holz dieser Müllersfamilie wärmen und mit ihren Decken. Das Bett, das er gerade angeboten bekommen hatte, würde er vielleicht wieder bekommen, um nachts noch Diktate des Brigadiers mitschreiben zu können, und der Brigadier selbst nähme das Bett des Müllerspaars. Dann würde man gehen, und das Haus wieder für die Zivilisten freigeben, falls sie noch da wären.
Aber das wären sie nicht. Sie würden weggegangen sein, um nicht zu erfrieren. Sie hätten sich möglichst früh auf den Weg zur Stadt gemacht, um dort nachts halb erfroren anzukommen und sich von dort an durchzubetteln.
Und die Stadt wäre gerettet, denn die Stellung weiter vorne wäre gehalten worden. Nein, falsch: Zurückerobert. Gehalten wurde sie ja jetzt gerade von einer vollen Besatzung, die dem Angriff bestimmt auch standhalten konnte, zumindest dann, wenn der Brigadier mit seinen Soldaten noch zu Hilfe käme. Aber nach dem Plan des Brigadiers würde er nicht eine besetze Stellung verstärken, sondern einer unterbesetzten, umkämpften und praktisch schon verlorenen Stellung im letzten Moment zu Hilfe kommen, um sie zurückzuerobern: Kühn. Ruhmreich. Und er würde Kommandant werden.
Man bot dem Boten einen Nachschlag an. Die Suppe, die er bekam, war dicker als die der Müllersfamilie.
Er bekam einen Nachschlag angeboten, aber lehnte ab: er wolle niemandem unnötig zur Last fallen. Der Müller antwortete, ab wann ihm jemand zur Last falle, das entscheide er, aber er lasse niemanden hier hungrig.
Draußen lag Schnee, nichts rührte sich. Drinnen saßen Müller, Müllerin und Bote am Kamin und schwiegen. Der Bote fragte den Müller nach Papier, irgendeinem alten Stück Packpapier. Als das ihm zugesichert wurde, schickte er den Ältesten des Müllerpaars zu seinem Mantel um das Paket zu holen. Mit der größten Sorgfalt packte er Rasiermesser aus und schlug es neu in das Papier des Müllers ein, und den geheimen Brief warf er ins Feuer.
Niemand fragte etwas, und sie sahen sich niemals wieder. Aber der Bote wurde in einem anderen Land zu einem gefeierten Diplomaten, und der Müller sah noch seine Urenkel.