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Ich muss mehr trinken. Seit ich den alten Metallkanister an die Lippen gesetzt habe, sage ich mir das. Aber er wird einfach nicht leer – sicher noch anderthalb Liter…
Es ist nötig, um das Gift rauszuspülen. Aufhalten lässt es sich nicht, da brauche ich mir keine Hoffnungen zu machen. Aber hinauszögern kann man es, haben sie in der letzten Radiosendung, die wir noch empfangen haben, gesagt. Man muss nur viel trinken und Sport treiben.
Wie es im Rest der Welt aussieht, weiß ich nicht, aber in diesem Raum sind die Scheiben eingeschmissen, der Putz bröckelt von den Wänden und das Wasser läuft unaufhörlich in ein kleines Becken in der gefliesten Ecke. Es wird wohl mal ein Hotelzimmer gewesen sein.
Ist es das? Oh nein… Gedächtnisverlust, schon eines der Symptome des Giftes. Das es so schnell geht! Nein, Moment. Ich kann es gar nicht wissen, weil ich doch vom Hinterhof gekommen bin, genau. Immer auf der Flucht, war ich vom Hof aus in das nächste Fenster, das keine Scheibe hatte, gesprungen, die Treppe rauf und hier rein. Das Treppenhaus war eng und unübersichtlich… wahrscheinlich für Dienstboten.
In diesem Treppenhaus habe ich sie jedenfalls abgehängt.
Die ehemalige Frau hatte mich im Versteck überrascht, ich hätte ja auch nicht singen müssen… aber es wird einem halt langweilig, wenn man nur auf Wache ist. Dominik und Mark waren losgezogen, einer auf der Suche nach Essen, der andere nach einem Funkgerät oder sowas. Ach, wenn sie mich nicht zurückgelassen hätten, dann würden sie ganz getrennt bleiben. Und einzeln herumirren… sie würden es sicher nicht schaffen. Das geht doch nur, wenn wir zusammenbleiben! Diese beiden Alphatiere… sind eben eher Einzelgänger, aber wir wissen doch, wie es Einzelgängern ergeht.
Ein Tropfen läuft an meinem Mund vorbei und in meinen Kragen. Der Kanister wird leerer. Ich werde ihn wieder voll machen und ins Versteck mitnehmen, vielleicht verlegen wir es besser gleich hier hin. Hier gibt es immerhin Wasser… Aber wieso Wasser. Ich muss mal wieder essen. Halt! Das ist nur ein Symptom. Ich bin eigentlich satt, ich habe zuletzt gegessen um… Abends doch, da essen wir immer… gut, gestern abend. Das ist schon lange her. Wie komme ich zurück zum Versteck? Nicht denselben Weg. Sie könnte irgendwo auf mich warten. Könnten wir eigentlich auch sie essen? Manche Gifte wirken ja nur, wenn sie direkt in die Blutbahn kommen… Schlechter, falscher Gedanke. Nein. Ich fülle den Kanister wieder auf und mache mich auf den Weg.
Apropos Blutbahn: ich brauche mal einen richtigen Verband.
– – –
Ich bin im Versteck angekommen. Mark ist schon hier, sagt, er hätte nichts zu Essen finden können. Will er sich nur drücken? Ich erzähle ihm von allem. Wie sie mich überrascht hat und ich weggerannt bin, sie hinterher, von meinem Sturz und dem plötzlichen Schmerz an der rechten Fessel, als sie zubiss, und der Erkenntnis, dass es mich tatsächlich erwischt hat – weiter komme ich nicht. Er blickt verständnisvoll, holt den Sanikasten und verbindet mich. Was für breite Oberarme er hat… so viel Muskel. Fleisch, ja… Nein! Aber ich habe doch schon getrunken, bis zum Umfallen, und den ganzen Rückweg bin ich gerannt, mit allen Umwegen. Es kann doch nicht so schnell gehen.
Mark redet mit mir. Es ist schwer, ihm zuzuhören. Ich muss mich konzentrieren. Er sagt, er braucht mich, um Dominik zur Vernunft zu bringen. Ja, aber Dominik könnte dasselbe sagen. Ich merke kaum, dass ich gerade so viel gerannt bin. Ich könnte nochmal so viel rennen, wenn ich nur dafür etwas zum Essen bekäme… Ich muss essen, sage ich Mark. Ich habe Hunger. Er gibt mir was von den Natokeksen. Warum die Kekse, wo wir doch auch frisches Rindfleisch haben, noch eingeschweißt? Nein, Moment. Genau darum: weil ich das essen will. Ich sehe auf die Kekse herab. Sie liegen in meiner Hand wie Fliesen, oder wie Stücke von Pappe. Ich beiße hinein. Sie schmecken nach gar nichts, aber immerhin haben die Zähne jetzt etwas zu tun. Ich stopfe sie in mich hinein.
"Hast du Wasser gefunden?", fragt Mark.
–"Ja, in einem Hotelzimmer. Umziehen?", kommt es aus meinem Mund – direkt, unüberlegt, wie betrunken.
Ich nehme noch einen Schluck Wasser in den Mund, aber es widert mich an. Ich schiebe es von den Backen in die Mitte und schlucke schließlich.
Später kommt Dominik. Man soll Sport treiben, haben sie gesagt, man soll sich erschöpfen. Ich mache jetzt seit einer halben Stunde Liegestütze und unterbreche nur, um zu trinken. Viel trinken. Ich sehe, wie der Boden immer wieder näher kommt und sich wieder entfernt, aber anstrengend ist es nicht. Mark und Dominik reden. Ich höre nicht zu, zu anstrengend, zu schwierig. Sollte ich es gerade deshalb tun? Egal. Das Gift wirkt anscheinend schon langsam. Dominik ist groß und kräftig gebaut. Man könnte tagelang von ihm leben. Nein! Denke an den Boden: Nah, weg, nah, weg…
Irgendwann später liege ich. Meine Arme haben endlich ihren Dienst versagt. Ich raffe mich auf, um wieder zu essen. Trinken sollte ich auch wieder. Die Kekse sind alle, aber in der Ecke, halb unter Dominiks Schlafsack, lugt ein eingeschweißtes Schnitzel hervor. Ich nehme es. Mark redet mit mir. Ich soll es lassen. Warum? Ich habe doch solchen Hunger, und es liegt hier einfach herum, ich tue doch keinem weh. Er nimmt es mir weg. Ich jammere kurz, aber dann beherrsche ich mich wieder. Ich muss mich beherrschen. Was machen wir jetzt, frage ich ihn. Er hat es mit Dominik doch bestimmt schon besprochen. Ja, hat er. Ich soll weggehen. Bekomme ich Essen mit? Ja, ein Drittel. Aber kein Fleisch. Ich widerspreche, und sie geben mir etwas davon, sofort reiße ich die Packung auf.
Halt! Das ist ein Symptom. Nicht essen. Ich habe gestern Abend erst gegessen. Der Duft zieht aus der offenen Packung zu mir her. Ich werfe sie von mir. Nein, ich habe nur so getan: sie ist noch in meiner Hand. Ich lege sie auf den Boden ab. So. Ich will sie nicht mehr anrühren. Zum Abschied umarmt mich Mark, er ist warm. Dominik versucht, seine Trauer zu verhehlen und klopft mir auf die Schulter. Ihr bleibt doch zusammen?, frage ich. Ich glaube, ich lalle. Sie sagen ja. Versprechen es mir. Dann renne ich los. Ich muss von ihnen weg, solange ich mich noch beherrschen kann. Ich renne eine vierspurige Straße entlang, ich weiß nicht wie lange. Ich glaube, es ist eine Autobahn. Ich habe Hunger. Ich reiße mit der Hand ein Stück von meinem T-Shirt ab und kaue darauf herum. Es schmeckt salzig.
– – –
Jetzt ist es dunkel. Ich laufe immernoch. Wann habe ich gegessen? Ich muss wieder essen. Vorne ist Licht. Also Menschen; Essen. Sie haben Essen. Bestimmt geben sie mir was ab. Sonst nehme ich es mir. Menschen? Halt, da sind Menschen! Ich bleibe stehen. Menschen. So wie Mark und Dominik. Darf ich mich ihnen nähern? Bin ich inzwischen zu gefährlich? Ich renne wieder los. Egal. Wo Menschen sind, ist auch Essen. Nichts könnte logischer sein. Es wird hell. Sie blenden mich mit einem Scheinwerfer. Es wird laut. Es klingt hart, wie aus einem Megafon. Bestimmt hat jemand was gesagt. Meinte er mich? Sag es nochmal!
Da, er sagt es. Bleiben Sie stehen, sagt er. Aber ich darf nicht stehen bleiben, es ist noch so weit bis zu ihnen. Nochmal: Bleiben Sie stehen, oder wir eröffnen das Feuer. Feuer? Nein, Feuer ist orange und flackert. Das da vorne sind normale Lampen. Ich laufe weiter.
Er sagt, sie würden schießen. Oh! Feuer, ja. Oh nein… Es ist so schwer, sich zu konzentrieren. Zuzuhören. Ich verlangsame meinen Schritt und halte stolpernd an. Ich hebe die Hand gegen den Scheinwerfer: das sind zwei Militär-Jeeps da vorne. Sind das Offizielle? Vielleicht ist unsere Stadt die einzige, und sie wollen, dass keiner raus kommt. Wie grausam, wo es doch draußen so viel Essen gibt und hier so wenig. Die Stimme redet wieder. Da stehen mehrere Menschen: einer mit Megafon, die anderen mit Gewehren. Was redet er? Was will er von mir? Ich muss ihnen von Mark und Dominik erzählen, damit sie sie holen. Sie trennen sich bestimmt, und dann erwischt sie auch einer. Ich schlucke und spucke den Lappen aus, die fasrigen Reste davon. Mark, sage ich. Es war geflüstert. Ich bringe meine Stimmbänder in Gang und brülle, aber bevor ich Dominik! artikulieren kann, geht mir die Luft aus. Ich gehe nach vorne. Er ruft wieder. Ich muss die Hände heben, dann schießen sie nicht. Das könnten sie, ja: sie können mir was anhaben, obwohl sie so weit weg sind. Ich reiße die Arme hoch und gehe langsam vorwärts. Halt, ruft er. Ich halte. Will sprechen. Geht nicht. Gehe weiter, langsam. Neben den Scheinwerfer, auf einen von den Gewehren zu. Mark!, will ich sagen, aber bringe es nicht heraus. Das Megafon-Geplärre hämmert mir in die Ohren. Ich sehe direkt den Gewehrträger vor mir, er fixiert mich. Legt an. Kneift ein Auge zu.
Ich vier Schritten könnte ich bei ihm sein, das Gewehr zur Seite drücken und endlich wieder etwas zwischen die Zähne nehmen. Das Licht einer der Laternen scheint auf seinem runden prallen Unterarm und um die Sehnen an seinem Hals.
Ich sehe genau in den Lauf, links und rechts höre ich andere sich bewegen. Ich sollte stehen bleiben, ich würde es nicht schaffen. Ich bleibe stehen.
Ich artikuliere: Mark. Es geht. Mit Luft: "Mark". Er hört mich! Er versteht mich! Meine Arme bleiben oben. Ich spreche wieder: "Dmmk". "Dominik". Ich drehe mich halb um und zeige nach hinten: "Da." Ich habe Angst vor dem nächsten Wort, verziehe den Mund. Meine Sicht verschwimmt, das sind Tränen. Ich sage "Da: Menschen!"
Ich kann nicht mehr. Springe auf ihn zu, schlage den Lauf zur Seite, während er noch erschrickt. Etwas trifft mich in die Seite, Blut kommt aus meiner Brust. Aber ich habe noch genug davon. Mit der anderen Hand packe ich den Stoff seiner Jacke und ziehe ihn zu mir über die Motorhaube, es geht ganz leicht. Schürze die Lippen, bald kann ich zubeißen. Ich höre noch einen Schuss, aber höre ihn nur. Sein Hals ist ganz nah und glänzt von Schweiß. Ich strecke den Kopf vor. Ich werde wieder getroffen, in die Schulter, und kippe zur Seite. Mein Griff löst sich. Ich falle nach unten, der Mensch richtet sich auf und hält das Gewehr in meine Richtung. Ich pralle auf den Boden auf. Halt, liegen bleiben! Es ist nur das Gift, das mich aufspringen lassen will. Das Gift, das mich ausfüllt. Ich trete um mich, zwinge meine Zähne wieder aufeinander und die Lippen zusammen. Kneife die Augen zu. Man drückt meine Arme und Beine auf den Boden, verschiedene Leute sprechen. Ein feiner Stich im Ellbogen. Eine Nadel? Was tun die? Ich zucke und schreie, mache die Augen auf, aber sehe nichts mehr.
Mein Körper wird schwerer, ich kann den Kopf nicht mehr vom Boden heben. Ein Motor springt an und entfernt sich in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Mir redet jemand ins linke Ohr, man hebt mich hoch und legt mich auf irgendwas Weiches.
Dann verliere ich die Besinnung.
Es ist nötig, um das Gift rauszuspülen. Aufhalten lässt es sich nicht, da brauche ich mir keine Hoffnungen zu machen. Aber hinauszögern kann man es, haben sie in der letzten Radiosendung, die wir noch empfangen haben, gesagt. Man muss nur viel trinken und Sport treiben.
Wie es im Rest der Welt aussieht, weiß ich nicht, aber in diesem Raum sind die Scheiben eingeschmissen, der Putz bröckelt von den Wänden und das Wasser läuft unaufhörlich in ein kleines Becken in der gefliesten Ecke. Es wird wohl mal ein Hotelzimmer gewesen sein.
Ist es das? Oh nein… Gedächtnisverlust, schon eines der Symptome des Giftes. Das es so schnell geht! Nein, Moment. Ich kann es gar nicht wissen, weil ich doch vom Hinterhof gekommen bin, genau. Immer auf der Flucht, war ich vom Hof aus in das nächste Fenster, das keine Scheibe hatte, gesprungen, die Treppe rauf und hier rein. Das Treppenhaus war eng und unübersichtlich… wahrscheinlich für Dienstboten.
In diesem Treppenhaus habe ich sie jedenfalls abgehängt.
Die ehemalige Frau hatte mich im Versteck überrascht, ich hätte ja auch nicht singen müssen… aber es wird einem halt langweilig, wenn man nur auf Wache ist. Dominik und Mark waren losgezogen, einer auf der Suche nach Essen, der andere nach einem Funkgerät oder sowas. Ach, wenn sie mich nicht zurückgelassen hätten, dann würden sie ganz getrennt bleiben. Und einzeln herumirren… sie würden es sicher nicht schaffen. Das geht doch nur, wenn wir zusammenbleiben! Diese beiden Alphatiere… sind eben eher Einzelgänger, aber wir wissen doch, wie es Einzelgängern ergeht.
Ein Tropfen läuft an meinem Mund vorbei und in meinen Kragen. Der Kanister wird leerer. Ich werde ihn wieder voll machen und ins Versteck mitnehmen, vielleicht verlegen wir es besser gleich hier hin. Hier gibt es immerhin Wasser… Aber wieso Wasser. Ich muss mal wieder essen. Halt! Das ist nur ein Symptom. Ich bin eigentlich satt, ich habe zuletzt gegessen um… Abends doch, da essen wir immer… gut, gestern abend. Das ist schon lange her. Wie komme ich zurück zum Versteck? Nicht denselben Weg. Sie könnte irgendwo auf mich warten. Könnten wir eigentlich auch sie essen? Manche Gifte wirken ja nur, wenn sie direkt in die Blutbahn kommen… Schlechter, falscher Gedanke. Nein. Ich fülle den Kanister wieder auf und mache mich auf den Weg.
Apropos Blutbahn: ich brauche mal einen richtigen Verband.
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Ich bin im Versteck angekommen. Mark ist schon hier, sagt, er hätte nichts zu Essen finden können. Will er sich nur drücken? Ich erzähle ihm von allem. Wie sie mich überrascht hat und ich weggerannt bin, sie hinterher, von meinem Sturz und dem plötzlichen Schmerz an der rechten Fessel, als sie zubiss, und der Erkenntnis, dass es mich tatsächlich erwischt hat – weiter komme ich nicht. Er blickt verständnisvoll, holt den Sanikasten und verbindet mich. Was für breite Oberarme er hat… so viel Muskel. Fleisch, ja… Nein! Aber ich habe doch schon getrunken, bis zum Umfallen, und den ganzen Rückweg bin ich gerannt, mit allen Umwegen. Es kann doch nicht so schnell gehen.
Mark redet mit mir. Es ist schwer, ihm zuzuhören. Ich muss mich konzentrieren. Er sagt, er braucht mich, um Dominik zur Vernunft zu bringen. Ja, aber Dominik könnte dasselbe sagen. Ich merke kaum, dass ich gerade so viel gerannt bin. Ich könnte nochmal so viel rennen, wenn ich nur dafür etwas zum Essen bekäme… Ich muss essen, sage ich Mark. Ich habe Hunger. Er gibt mir was von den Natokeksen. Warum die Kekse, wo wir doch auch frisches Rindfleisch haben, noch eingeschweißt? Nein, Moment. Genau darum: weil ich das essen will. Ich sehe auf die Kekse herab. Sie liegen in meiner Hand wie Fliesen, oder wie Stücke von Pappe. Ich beiße hinein. Sie schmecken nach gar nichts, aber immerhin haben die Zähne jetzt etwas zu tun. Ich stopfe sie in mich hinein.
"Hast du Wasser gefunden?", fragt Mark.
–"Ja, in einem Hotelzimmer. Umziehen?", kommt es aus meinem Mund – direkt, unüberlegt, wie betrunken.
Ich nehme noch einen Schluck Wasser in den Mund, aber es widert mich an. Ich schiebe es von den Backen in die Mitte und schlucke schließlich.
Später kommt Dominik. Man soll Sport treiben, haben sie gesagt, man soll sich erschöpfen. Ich mache jetzt seit einer halben Stunde Liegestütze und unterbreche nur, um zu trinken. Viel trinken. Ich sehe, wie der Boden immer wieder näher kommt und sich wieder entfernt, aber anstrengend ist es nicht. Mark und Dominik reden. Ich höre nicht zu, zu anstrengend, zu schwierig. Sollte ich es gerade deshalb tun? Egal. Das Gift wirkt anscheinend schon langsam. Dominik ist groß und kräftig gebaut. Man könnte tagelang von ihm leben. Nein! Denke an den Boden: Nah, weg, nah, weg…
Irgendwann später liege ich. Meine Arme haben endlich ihren Dienst versagt. Ich raffe mich auf, um wieder zu essen. Trinken sollte ich auch wieder. Die Kekse sind alle, aber in der Ecke, halb unter Dominiks Schlafsack, lugt ein eingeschweißtes Schnitzel hervor. Ich nehme es. Mark redet mit mir. Ich soll es lassen. Warum? Ich habe doch solchen Hunger, und es liegt hier einfach herum, ich tue doch keinem weh. Er nimmt es mir weg. Ich jammere kurz, aber dann beherrsche ich mich wieder. Ich muss mich beherrschen. Was machen wir jetzt, frage ich ihn. Er hat es mit Dominik doch bestimmt schon besprochen. Ja, hat er. Ich soll weggehen. Bekomme ich Essen mit? Ja, ein Drittel. Aber kein Fleisch. Ich widerspreche, und sie geben mir etwas davon, sofort reiße ich die Packung auf.
Halt! Das ist ein Symptom. Nicht essen. Ich habe gestern Abend erst gegessen. Der Duft zieht aus der offenen Packung zu mir her. Ich werfe sie von mir. Nein, ich habe nur so getan: sie ist noch in meiner Hand. Ich lege sie auf den Boden ab. So. Ich will sie nicht mehr anrühren. Zum Abschied umarmt mich Mark, er ist warm. Dominik versucht, seine Trauer zu verhehlen und klopft mir auf die Schulter. Ihr bleibt doch zusammen?, frage ich. Ich glaube, ich lalle. Sie sagen ja. Versprechen es mir. Dann renne ich los. Ich muss von ihnen weg, solange ich mich noch beherrschen kann. Ich renne eine vierspurige Straße entlang, ich weiß nicht wie lange. Ich glaube, es ist eine Autobahn. Ich habe Hunger. Ich reiße mit der Hand ein Stück von meinem T-Shirt ab und kaue darauf herum. Es schmeckt salzig.
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Jetzt ist es dunkel. Ich laufe immernoch. Wann habe ich gegessen? Ich muss wieder essen. Vorne ist Licht. Also Menschen; Essen. Sie haben Essen. Bestimmt geben sie mir was ab. Sonst nehme ich es mir. Menschen? Halt, da sind Menschen! Ich bleibe stehen. Menschen. So wie Mark und Dominik. Darf ich mich ihnen nähern? Bin ich inzwischen zu gefährlich? Ich renne wieder los. Egal. Wo Menschen sind, ist auch Essen. Nichts könnte logischer sein. Es wird hell. Sie blenden mich mit einem Scheinwerfer. Es wird laut. Es klingt hart, wie aus einem Megafon. Bestimmt hat jemand was gesagt. Meinte er mich? Sag es nochmal!
Da, er sagt es. Bleiben Sie stehen, sagt er. Aber ich darf nicht stehen bleiben, es ist noch so weit bis zu ihnen. Nochmal: Bleiben Sie stehen, oder wir eröffnen das Feuer. Feuer? Nein, Feuer ist orange und flackert. Das da vorne sind normale Lampen. Ich laufe weiter.
Er sagt, sie würden schießen. Oh! Feuer, ja. Oh nein… Es ist so schwer, sich zu konzentrieren. Zuzuhören. Ich verlangsame meinen Schritt und halte stolpernd an. Ich hebe die Hand gegen den Scheinwerfer: das sind zwei Militär-Jeeps da vorne. Sind das Offizielle? Vielleicht ist unsere Stadt die einzige, und sie wollen, dass keiner raus kommt. Wie grausam, wo es doch draußen so viel Essen gibt und hier so wenig. Die Stimme redet wieder. Da stehen mehrere Menschen: einer mit Megafon, die anderen mit Gewehren. Was redet er? Was will er von mir? Ich muss ihnen von Mark und Dominik erzählen, damit sie sie holen. Sie trennen sich bestimmt, und dann erwischt sie auch einer. Ich schlucke und spucke den Lappen aus, die fasrigen Reste davon. Mark, sage ich. Es war geflüstert. Ich bringe meine Stimmbänder in Gang und brülle, aber bevor ich Dominik! artikulieren kann, geht mir die Luft aus. Ich gehe nach vorne. Er ruft wieder. Ich muss die Hände heben, dann schießen sie nicht. Das könnten sie, ja: sie können mir was anhaben, obwohl sie so weit weg sind. Ich reiße die Arme hoch und gehe langsam vorwärts. Halt, ruft er. Ich halte. Will sprechen. Geht nicht. Gehe weiter, langsam. Neben den Scheinwerfer, auf einen von den Gewehren zu. Mark!, will ich sagen, aber bringe es nicht heraus. Das Megafon-Geplärre hämmert mir in die Ohren. Ich sehe direkt den Gewehrträger vor mir, er fixiert mich. Legt an. Kneift ein Auge zu.
Ich vier Schritten könnte ich bei ihm sein, das Gewehr zur Seite drücken und endlich wieder etwas zwischen die Zähne nehmen. Das Licht einer der Laternen scheint auf seinem runden prallen Unterarm und um die Sehnen an seinem Hals.
Ich sehe genau in den Lauf, links und rechts höre ich andere sich bewegen. Ich sollte stehen bleiben, ich würde es nicht schaffen. Ich bleibe stehen.
Ich artikuliere: Mark. Es geht. Mit Luft: "Mark". Er hört mich! Er versteht mich! Meine Arme bleiben oben. Ich spreche wieder: "Dmmk". "Dominik". Ich drehe mich halb um und zeige nach hinten: "Da." Ich habe Angst vor dem nächsten Wort, verziehe den Mund. Meine Sicht verschwimmt, das sind Tränen. Ich sage "Da: Menschen!"
Ich kann nicht mehr. Springe auf ihn zu, schlage den Lauf zur Seite, während er noch erschrickt. Etwas trifft mich in die Seite, Blut kommt aus meiner Brust. Aber ich habe noch genug davon. Mit der anderen Hand packe ich den Stoff seiner Jacke und ziehe ihn zu mir über die Motorhaube, es geht ganz leicht. Schürze die Lippen, bald kann ich zubeißen. Ich höre noch einen Schuss, aber höre ihn nur. Sein Hals ist ganz nah und glänzt von Schweiß. Ich strecke den Kopf vor. Ich werde wieder getroffen, in die Schulter, und kippe zur Seite. Mein Griff löst sich. Ich falle nach unten, der Mensch richtet sich auf und hält das Gewehr in meine Richtung. Ich pralle auf den Boden auf. Halt, liegen bleiben! Es ist nur das Gift, das mich aufspringen lassen will. Das Gift, das mich ausfüllt. Ich trete um mich, zwinge meine Zähne wieder aufeinander und die Lippen zusammen. Kneife die Augen zu. Man drückt meine Arme und Beine auf den Boden, verschiedene Leute sprechen. Ein feiner Stich im Ellbogen. Eine Nadel? Was tun die? Ich zucke und schreie, mache die Augen auf, aber sehe nichts mehr.
Mein Körper wird schwerer, ich kann den Kopf nicht mehr vom Boden heben. Ein Motor springt an und entfernt sich in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Mir redet jemand ins linke Ohr, man hebt mich hoch und legt mich auf irgendwas Weiches.
Dann verliere ich die Besinnung.