Mit 13 hatte ich mal meiner ganzen Klassenfahrt erzählt, dass Eis aus Waffelhörnchen ungesund ist. Einfach, um auszuprobieren, ob sie es glauben würden. Und tatsächlich haben wir alle in den nächsten vier Tagen ungefähr zweihundert Pappbecherchen mehr verbraucht, und am Ende hatten echt alle Angst vor Eiswaffeln. Die Lehrer haben's erst auf der Rückfahrt bemerkt, und selbst von denen hätte's eine fast noch geglaubt.
Als wir ganz zum Abschluss nochmal ein Eis holen gingen – es war ein wirklich gnadenlos heißer Sommer –, da bestellte ich mir eins in der Waffel, und wollte alle anderen auslachen... Aber die Waffel war unten nicht ganz zu, und mir tropfte das geschmolzene Stracciatella auf die Hose, und ich sah aus wie eingepisst oder Schlimmeres. Und dann haben alle anderen mich ausgelacht.
Und in einem ruhigen Moment später erschien mir der Geist der Eiswaffeln und sagte mir, ich wäre jetzt verflucht, und jedes Mal wenn ich Eis essen würde, würde unten was raustropfen.
Es gibt schlimmere Flüche. Der Geist der Eiswaffeln ist nunmal auch kein besonderes mächtiges Exemplar seiner Gattung. Aber es ist schon echt lästig. Vor allem, weil sich der Fluch nicht nur auf Waffelhörnchen bezieht, sondern sogar auf Calippotüten und die Schokoladenumhüllung von Eis am Stiel.
Aber darum geht’s hier gar nicht.
Ich will euch von einem Phänomen erzählen, das viel mächtiger ist; und bei dem weitaus größere Kraft manifestiert wurde als der Zorn einer Schulklasse verarschter Siebtklässler.
Im Süden der Stadt gibt es eine Wohnsiedlung, von dem sich alle erzählen, es trage den schlimmsten Fluch, von dem sie je mitbekommen hätten, seit den alten Flüchen aus dem Krieg und den Trümmerjahren. Man nennt sie auch Das Paradies.
Man weiß nicht viel darüber. Manche erzählen, alle Bewohner seien in Wirklichkeit tot; und niemand kennt jemanden, der oder die dort lebt.
Aber die Müllabfuhr und die Lieferanten fahren ein und aus, auch wenn nur die allerergebensten Fahrer sich hineintrauen – Menschen mit einfachen Ansprüchen sind das, die ohne viele Gedanken ihre Arbeit erledigen und wenig links und rechts schauen dabei.
Hinund wieder geht mal jemand anders aus Neugier über die kleine Brücke ins Paradies hinein – denn es ist durch einen schmalen, baumgesäumten Bach vom Rest der Stadt abgegrenzt –, und die meisten davon kommen nie wieder zurück. Entweder das, oder man findet sie schon wenige Stunden später wieder an der Brücke, sehr nervös und ängstlich und mit einem seltsam verklärten Blick.
Ein zweites Mal geht keiner der Neugierigen hinein. Aber in Gesprächen werden sie meistens sehr wehmütig, wenn das Thema auf die Siedlung Paradies kommt, im Süden der Stadt.
– – –
Ich muss auch einmal einen Blick hinein werfen.
Aber ich will tief rein, darum springe ich an der letzten Ampel vor der Brücke, wo der Müllwagen abbiegt, hinten auf den Tritt und halte mich fest. Die Müllleute sitzen alle noch vorne in der Kanzel.
Wir fahren auf die Brücke, und sind sofort auch schon drüber weg – der Bach ist winzig schmal, und die Brücke ist weniger lang als sie breit ist.
Der Bach ist noch nie über die Ufer getreten oder auch nur angeschwollen – egal, was für Starkregen oder Hochwasser in der Stadt gerade herrschte. Das Paradies scheint ein eigenes Wetter zu haben; ein sehr stabiles.
Als der Müllwagen hält, springe ich sofort ab und spaziere ganz entspannt los, den Weg zurück, den wir gekommen sind.
Es ist aber auch wirklich eine Umgebung, die zum Entspannen einlädt: der Weg ist gerade so breit wie das Müllauto, und links und rechts stehen dichte, rundliche Hecken, die aussehen als ob sie vielleicht ein Mal im Jahr geschnitten werden. Hier und da sind Rosen darin oder andere Pflanzen voller Blüten, und grünüberspannte Gartentörchen, hinter denen man bescheidene gepflegte Gärten erkennen kann und Häuser, die alle einzigartig sind, liebevoll und wahrscheinlich in Eigenarbeit geplant und gebaut – die Bewohner hier sind mit Sicherheit nicht reich, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass sie nicht glücklich sind.
Nur Bewohner sehe ich keine. Vielleicht sind sie arbeiten oder so, denke ich. Direkt hinter der Brücke ging eine Straße quer vorbei, der Müllwagen ist links gefahren, und rechts sah es so aus, als ob dort weniger Stätten zum Wohnen kämen, sondern Pferdekoppeln und kleine Gewächshäuser.
Ich setze mich auf eine weiß lackierte Bank mit schmiedeeisernen Armlehnen und warte.
Mir gegenüber quillt ein riesiger Holunder über die Hecke und hält seine weißen Blütendolden in die Sonne. Ein paar Insekten schwirren um ihn herum, suchen Nektar, sammeln Pollen und tun, was solche kleinen Wesen eben immer tun.
Nachmittags um vier höre ich Menschen.
Eine Familie kommt der Weg entlang – die Eltern um die 30; ein Kind, vielleicht fünf, läuft ihnen voran, ein anderes ist auf dem Arm.
Die Mutter trägt einen Beutel voller riesiger Zucchini. Sie reden nicht miteinander, aber sie strahlen eine unerschütterliche Eintracht aus, als sie an mir vorbeigehen und grüßen – kurz, aber mit einem wahrhaftig liebevollen Lächeln. Würde ich heute hier schlafen wollen, würde ich sie ohne Scheu nach einem Gästebett fragen.
In den Häuser und Gärten belebt es sich auch: Stimmen, Türenknarzen, und sogar eine Heckenschere höre ich klappern.
„Vanessa!“, tönt es aus einem der Gespräche hinter den Hecken.
Und ich drifte ab: eine Klassenkameradin von mir hatte Vanessa geheißen. Sie hatte sehr früh mitbekommen, dass ihr hoher Wuchs und ihre neuen Brüste etwas zum Stolz drauf sein waren, und hatte sich auch stets dementsprechend selbstbewusst präsentiert. Alle standen auf sie, aber alle waren zu schüchtern. Sie selbst hing immer mit der einen oder anderen besten Freundin rum, und wirklich kennengelernt hatte ich sie nie. Mit Mitte fünfzehn kam sie dann plötzlich nicht mehr in die Schule – sie sei umgezogen, sagten die Lehrer, aber da ging schon das Gerücht um, sie und ihre Familie seien ins Paradies gefahren.
Ob sie das war? Ich beschloss, nachzuprüfen, und erhob mich. Obwohl ich sicher schon Stunden auf dieser eigentlich harten Bank gesessen hatte, tat überhaupt nichts weh – ich streckte mich und ging los.
Wie sie wohl aussah inzwischen? Ob ich sie erkennen würde? Sie könnte auch schon selbst Mutter sein.
Ich wusste nicht, ob ich am richtigen Törchen stand, als ich nach ihr rief: „Vanessa?“ – dieser so schöne Ort mit seinen freundlichen Menschen ließ jede Sorge, sich mit solchem Rufen zu blamieren, unrealistisch erscheinen. Darum rief ich nochmal, lauter: „Vanessa!“
„Nick?“, sagte eine Stimme hinter mir. Es musste dieselbe Vanessa sein – ihre Stimme erkannte ich, aber vor allem hatte sie mich erkannt, und bei dem Spitznamen genannt, den ich seit dem Abi nicht mehr benutzt hatte. Ich drehte mich um.
Da stand sie in einem Garteneingang, in Richtung des riesigen Holunders, hinter einem hüfthohen Törchen aus einer weiß lackierten Europalette.
Und als ich sie sah, begriff ich den Fluch dieser Siedlung: Vanessa sah immernoch genauso aus wie in meiner Erinnerung, fünfzehn Jahre alt.
Sie wirkte wohl viel weniger darauf bedacht, wie man sie ansähe: vollkommen ohne zu posieren lehnte sie sich auf das Tor, ungeschminkt, und die Haare nachlässig zusammengeklammert.
„Meine Fresse“, sagte sie: „Bist du alt geworden.“
– – –
Eine unbestimmte Zeit später saßen wir zusammen im Garten ihrer Eltern und unterhielten und über alte Zeiten.
Sie holte Eis – fertiges Hörncheneis in Papierverpackungen –, und brachte mir gleich einen Unterteller mit.
„Hier. Du hast doch diesen Fluch, oder?“
„Ja“, sagte ich, „Danke. Aber ich wär mir gar nicht so sicher, ob der hier drin auch gilt.“
„Warum denn nicht?“, fragte sie.
Genau sagen konnte ich das nicht: „Weil hier alles anders ist“, sagte ich, „Ich meine, guck dich doch mal an! Du bist immernoch fünfzehn!“
„Sechzehn.“
„Von mir aus. Aber...“
„Wie alt bist du?“, fragte sie.
„Einunddreißig.“
„Wow. Wie hast du das geschafft, so alt zu werden?“
„Wie, geschafft. Das passiert halt. Warum ist es dir nicht passiert?“
„Du meinst, auf die ganz übliche Weise? Jeden Tag ein bisschen?“ Welches Jahr haben wir denn?“
Ich sagte es ihr: „Zweitausendzwanzig.“
„Ach du Scheiße.“ – sie schaute auf mich, und an ihrem Körper hinab, und sagte: „Okay, jetzt versteh ich... das heißt, ich bin auch schon seit fünfzehn Jahren hier drin?“
„Ja. Und wie's aussieht, überhaupt nicht älter geworden. Ist das sowas wie 'ne Zeitschleife, oder was?“ – Ich bekam Angst, als ich das ausgesprochen hatte, und redete schnell weiter: „Weißt du noch, was du gestern gemacht hast?“
„Ja klar“, sagte sie: „wir haben Zucchini geerntet... Ach nee, das war heute. Aber wir haben die Haselsträucher eingepflanzt, und die vorgezogenen Tomaten... nee, das ist eher was für den Frühling. Ist wohl schon länger her. Dann haben wir die Hecken geschnitten, und den Weg an der Brücke gejätet... Also... keine Ahnung, ob das alles gestern war, oder letzte Woche, oder was weiß ich. Aber es ist jedenfalls mehr als man an einem Tag machen kann, also: die Tage sind schon alles immer neue Tage. 'Ne Zeitschleife ist es nicht.“
„Aber warum wirst du dann nicht älter?“
„Was weiß ich? Ist doch schön so.“
„Du findest es schön hier?“
„Halloh?! Guck dich doch mal um!“
Das musste ich zugeben: „Ja, gut. Es ist wunderschön hier.“
„Ja also“, sagte sie, als ob damit alles geklärt wäre. „Wie lange willst du eigentlich bleiben? Es wird demnächst ja auch mal dunkel, und wenn du hier pennen möchtest, sag ich lieber meinen Eltern Bescheid...“
„Nene, ich geh gleich wieder.“
„Ach, schade“, sagte sie. „Den Weg kennst du?“
Ich zögerte und überlegte, und ehe mir das vorbereitete „Ich denk schon“ über die Lippen kam, hatte sie mir angeboten, mich bis zur Brücke zu begleiten.
Auf dem Weg erzählte ich ihr, was die Siedlung draußen i der Stadt für einen Ruf hätte. Sie lachte darüber. „Die haben so keine Ahnung!“, sagte sie, „es ist so schön hier! Jeder einzelne Tag ist der Schönste überhaupt!“
Mir tropfte etwas Eis auf den Boden; die Waffel hatte einen seitlichen Riss bekommen.
„Und was machst du morgen, hier?“, fragte ich sie.
„Mal sehn.“ – Das gab sie zur Antwort. Und als ich weiter nachfragte, meinte sie nur: „Man kann doch nicht wissen, was morgen so zu tun sein wird. Aber solang morgen so schön wird wie heute, hab ich keine Lust, irgendwo anders zu sein.“
Ich steckte mir den letzten Rest Eiswaffel in den Mund und leckte mir geschmolzenes Eis von den Fingern. Wir waren an der Brücke angekommen:
Alle Leute aus der Siedlung gingen jeden Tag hier vorbei, auf dem Weg zu den Koppeln und Gärten, und jedes Mal entschieden sie sich, nicht über die Brücke in die Stadt zu gehen, sondern einen weiteren Tag hier zu bleiben. Und ihr gesammelter Wunsch, dass morgen doch einfach nur genauso sein sollte wie heute, verwusch ihre Erinnerung und hielt ihre Körper und sogar das Wetter in einem Zustadt fest, der doch eigentlich nach einem Moment wieder vorbei vorbei sein sollte; so wie die Wut meiner Klassenkameraden noch über achtzehn Jahre hinweg diese Eiswaffel in meiner Hand kaputt gemacht hatte.
„Also?“, sagte die junge Vanessa zu mir: „Willst du jetzt gehen, oder nicht?“
Ich wusste: wenn ich mich jetzt entscheiden würde, zu bleiben, würde ich morgen wieder so entscheiden, und weiter so bis in alle Ewigkeit. Und es würde schön sein.
Aber wie ich so auf die junge Vanessa sah und dachte, wie ihr bloßer Anblick mich damals immer so aus der Spur hauen konnte, war ich doch ganz froh, diesem Alter entwachsen zu sein.
Und ich wollte das Weiterwachsen nicht aufgeben, also verabschiedete ich mich von ihr – mit mir kommen würde sie sowieso nicht, egal, was ich sagte. „Alles Gute“, wünschte ich ihr, als wir uns umarmten, und sie sagte: „Mach's gut!“ – – Dann überquerte ich die Brücke, zurück in die Stadt.
– – –
Ich werde nie wieder über diese Brücke gehen. Jetzt, auf dieser Seite, das die Entscheidung, die ich jedes Mal treffe, wenn ich vorbeikomme: ich habe zu viel Angst, nicht mehr zurück zu wollen, wenn ich einmal drüben bin.
Vanessa ist immernoch jung, da gehe ich von aus. Ich habe mir vor kurzem eine Gleitsichtbrille zulegen müssen. Sie wird auch noch jung sein, wenn ich sterbe. Aber ich werde bis dahin gelebt haben; und sie nicht.
Als wir ganz zum Abschluss nochmal ein Eis holen gingen – es war ein wirklich gnadenlos heißer Sommer –, da bestellte ich mir eins in der Waffel, und wollte alle anderen auslachen... Aber die Waffel war unten nicht ganz zu, und mir tropfte das geschmolzene Stracciatella auf die Hose, und ich sah aus wie eingepisst oder Schlimmeres. Und dann haben alle anderen mich ausgelacht.
Und in einem ruhigen Moment später erschien mir der Geist der Eiswaffeln und sagte mir, ich wäre jetzt verflucht, und jedes Mal wenn ich Eis essen würde, würde unten was raustropfen.
Es gibt schlimmere Flüche. Der Geist der Eiswaffeln ist nunmal auch kein besonderes mächtiges Exemplar seiner Gattung. Aber es ist schon echt lästig. Vor allem, weil sich der Fluch nicht nur auf Waffelhörnchen bezieht, sondern sogar auf Calippotüten und die Schokoladenumhüllung von Eis am Stiel.
Aber darum geht’s hier gar nicht.
Ich will euch von einem Phänomen erzählen, das viel mächtiger ist; und bei dem weitaus größere Kraft manifestiert wurde als der Zorn einer Schulklasse verarschter Siebtklässler.
Im Süden der Stadt gibt es eine Wohnsiedlung, von dem sich alle erzählen, es trage den schlimmsten Fluch, von dem sie je mitbekommen hätten, seit den alten Flüchen aus dem Krieg und den Trümmerjahren. Man nennt sie auch Das Paradies.
Man weiß nicht viel darüber. Manche erzählen, alle Bewohner seien in Wirklichkeit tot; und niemand kennt jemanden, der oder die dort lebt.
Aber die Müllabfuhr und die Lieferanten fahren ein und aus, auch wenn nur die allerergebensten Fahrer sich hineintrauen – Menschen mit einfachen Ansprüchen sind das, die ohne viele Gedanken ihre Arbeit erledigen und wenig links und rechts schauen dabei.
Hinund wieder geht mal jemand anders aus Neugier über die kleine Brücke ins Paradies hinein – denn es ist durch einen schmalen, baumgesäumten Bach vom Rest der Stadt abgegrenzt –, und die meisten davon kommen nie wieder zurück. Entweder das, oder man findet sie schon wenige Stunden später wieder an der Brücke, sehr nervös und ängstlich und mit einem seltsam verklärten Blick.
Ein zweites Mal geht keiner der Neugierigen hinein. Aber in Gesprächen werden sie meistens sehr wehmütig, wenn das Thema auf die Siedlung Paradies kommt, im Süden der Stadt.
– – –
Ich muss auch einmal einen Blick hinein werfen.
Aber ich will tief rein, darum springe ich an der letzten Ampel vor der Brücke, wo der Müllwagen abbiegt, hinten auf den Tritt und halte mich fest. Die Müllleute sitzen alle noch vorne in der Kanzel.
Wir fahren auf die Brücke, und sind sofort auch schon drüber weg – der Bach ist winzig schmal, und die Brücke ist weniger lang als sie breit ist.
Der Bach ist noch nie über die Ufer getreten oder auch nur angeschwollen – egal, was für Starkregen oder Hochwasser in der Stadt gerade herrschte. Das Paradies scheint ein eigenes Wetter zu haben; ein sehr stabiles.
Als der Müllwagen hält, springe ich sofort ab und spaziere ganz entspannt los, den Weg zurück, den wir gekommen sind.
Es ist aber auch wirklich eine Umgebung, die zum Entspannen einlädt: der Weg ist gerade so breit wie das Müllauto, und links und rechts stehen dichte, rundliche Hecken, die aussehen als ob sie vielleicht ein Mal im Jahr geschnitten werden. Hier und da sind Rosen darin oder andere Pflanzen voller Blüten, und grünüberspannte Gartentörchen, hinter denen man bescheidene gepflegte Gärten erkennen kann und Häuser, die alle einzigartig sind, liebevoll und wahrscheinlich in Eigenarbeit geplant und gebaut – die Bewohner hier sind mit Sicherheit nicht reich, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass sie nicht glücklich sind.
Nur Bewohner sehe ich keine. Vielleicht sind sie arbeiten oder so, denke ich. Direkt hinter der Brücke ging eine Straße quer vorbei, der Müllwagen ist links gefahren, und rechts sah es so aus, als ob dort weniger Stätten zum Wohnen kämen, sondern Pferdekoppeln und kleine Gewächshäuser.
Ich setze mich auf eine weiß lackierte Bank mit schmiedeeisernen Armlehnen und warte.
Mir gegenüber quillt ein riesiger Holunder über die Hecke und hält seine weißen Blütendolden in die Sonne. Ein paar Insekten schwirren um ihn herum, suchen Nektar, sammeln Pollen und tun, was solche kleinen Wesen eben immer tun.
Nachmittags um vier höre ich Menschen.
Eine Familie kommt der Weg entlang – die Eltern um die 30; ein Kind, vielleicht fünf, läuft ihnen voran, ein anderes ist auf dem Arm.
Die Mutter trägt einen Beutel voller riesiger Zucchini. Sie reden nicht miteinander, aber sie strahlen eine unerschütterliche Eintracht aus, als sie an mir vorbeigehen und grüßen – kurz, aber mit einem wahrhaftig liebevollen Lächeln. Würde ich heute hier schlafen wollen, würde ich sie ohne Scheu nach einem Gästebett fragen.
In den Häuser und Gärten belebt es sich auch: Stimmen, Türenknarzen, und sogar eine Heckenschere höre ich klappern.
„Vanessa!“, tönt es aus einem der Gespräche hinter den Hecken.
Und ich drifte ab: eine Klassenkameradin von mir hatte Vanessa geheißen. Sie hatte sehr früh mitbekommen, dass ihr hoher Wuchs und ihre neuen Brüste etwas zum Stolz drauf sein waren, und hatte sich auch stets dementsprechend selbstbewusst präsentiert. Alle standen auf sie, aber alle waren zu schüchtern. Sie selbst hing immer mit der einen oder anderen besten Freundin rum, und wirklich kennengelernt hatte ich sie nie. Mit Mitte fünfzehn kam sie dann plötzlich nicht mehr in die Schule – sie sei umgezogen, sagten die Lehrer, aber da ging schon das Gerücht um, sie und ihre Familie seien ins Paradies gefahren.
Ob sie das war? Ich beschloss, nachzuprüfen, und erhob mich. Obwohl ich sicher schon Stunden auf dieser eigentlich harten Bank gesessen hatte, tat überhaupt nichts weh – ich streckte mich und ging los.
Wie sie wohl aussah inzwischen? Ob ich sie erkennen würde? Sie könnte auch schon selbst Mutter sein.
Ich wusste nicht, ob ich am richtigen Törchen stand, als ich nach ihr rief: „Vanessa?“ – dieser so schöne Ort mit seinen freundlichen Menschen ließ jede Sorge, sich mit solchem Rufen zu blamieren, unrealistisch erscheinen. Darum rief ich nochmal, lauter: „Vanessa!“
„Nick?“, sagte eine Stimme hinter mir. Es musste dieselbe Vanessa sein – ihre Stimme erkannte ich, aber vor allem hatte sie mich erkannt, und bei dem Spitznamen genannt, den ich seit dem Abi nicht mehr benutzt hatte. Ich drehte mich um.
Da stand sie in einem Garteneingang, in Richtung des riesigen Holunders, hinter einem hüfthohen Törchen aus einer weiß lackierten Europalette.
Und als ich sie sah, begriff ich den Fluch dieser Siedlung: Vanessa sah immernoch genauso aus wie in meiner Erinnerung, fünfzehn Jahre alt.
Sie wirkte wohl viel weniger darauf bedacht, wie man sie ansähe: vollkommen ohne zu posieren lehnte sie sich auf das Tor, ungeschminkt, und die Haare nachlässig zusammengeklammert.
„Meine Fresse“, sagte sie: „Bist du alt geworden.“
– – –
Eine unbestimmte Zeit später saßen wir zusammen im Garten ihrer Eltern und unterhielten und über alte Zeiten.
Sie holte Eis – fertiges Hörncheneis in Papierverpackungen –, und brachte mir gleich einen Unterteller mit.
„Hier. Du hast doch diesen Fluch, oder?“
„Ja“, sagte ich, „Danke. Aber ich wär mir gar nicht so sicher, ob der hier drin auch gilt.“
„Warum denn nicht?“, fragte sie.
Genau sagen konnte ich das nicht: „Weil hier alles anders ist“, sagte ich, „Ich meine, guck dich doch mal an! Du bist immernoch fünfzehn!“
„Sechzehn.“
„Von mir aus. Aber...“
„Wie alt bist du?“, fragte sie.
„Einunddreißig.“
„Wow. Wie hast du das geschafft, so alt zu werden?“
„Wie, geschafft. Das passiert halt. Warum ist es dir nicht passiert?“
„Du meinst, auf die ganz übliche Weise? Jeden Tag ein bisschen?“ Welches Jahr haben wir denn?“
Ich sagte es ihr: „Zweitausendzwanzig.“
„Ach du Scheiße.“ – sie schaute auf mich, und an ihrem Körper hinab, und sagte: „Okay, jetzt versteh ich... das heißt, ich bin auch schon seit fünfzehn Jahren hier drin?“
„Ja. Und wie's aussieht, überhaupt nicht älter geworden. Ist das sowas wie 'ne Zeitschleife, oder was?“ – Ich bekam Angst, als ich das ausgesprochen hatte, und redete schnell weiter: „Weißt du noch, was du gestern gemacht hast?“
„Ja klar“, sagte sie: „wir haben Zucchini geerntet... Ach nee, das war heute. Aber wir haben die Haselsträucher eingepflanzt, und die vorgezogenen Tomaten... nee, das ist eher was für den Frühling. Ist wohl schon länger her. Dann haben wir die Hecken geschnitten, und den Weg an der Brücke gejätet... Also... keine Ahnung, ob das alles gestern war, oder letzte Woche, oder was weiß ich. Aber es ist jedenfalls mehr als man an einem Tag machen kann, also: die Tage sind schon alles immer neue Tage. 'Ne Zeitschleife ist es nicht.“
„Aber warum wirst du dann nicht älter?“
„Was weiß ich? Ist doch schön so.“
„Du findest es schön hier?“
„Halloh?! Guck dich doch mal um!“
Das musste ich zugeben: „Ja, gut. Es ist wunderschön hier.“
„Ja also“, sagte sie, als ob damit alles geklärt wäre. „Wie lange willst du eigentlich bleiben? Es wird demnächst ja auch mal dunkel, und wenn du hier pennen möchtest, sag ich lieber meinen Eltern Bescheid...“
„Nene, ich geh gleich wieder.“
„Ach, schade“, sagte sie. „Den Weg kennst du?“
Ich zögerte und überlegte, und ehe mir das vorbereitete „Ich denk schon“ über die Lippen kam, hatte sie mir angeboten, mich bis zur Brücke zu begleiten.
Auf dem Weg erzählte ich ihr, was die Siedlung draußen i der Stadt für einen Ruf hätte. Sie lachte darüber. „Die haben so keine Ahnung!“, sagte sie, „es ist so schön hier! Jeder einzelne Tag ist der Schönste überhaupt!“
Mir tropfte etwas Eis auf den Boden; die Waffel hatte einen seitlichen Riss bekommen.
„Und was machst du morgen, hier?“, fragte ich sie.
„Mal sehn.“ – Das gab sie zur Antwort. Und als ich weiter nachfragte, meinte sie nur: „Man kann doch nicht wissen, was morgen so zu tun sein wird. Aber solang morgen so schön wird wie heute, hab ich keine Lust, irgendwo anders zu sein.“
Ich steckte mir den letzten Rest Eiswaffel in den Mund und leckte mir geschmolzenes Eis von den Fingern. Wir waren an der Brücke angekommen:
Alle Leute aus der Siedlung gingen jeden Tag hier vorbei, auf dem Weg zu den Koppeln und Gärten, und jedes Mal entschieden sie sich, nicht über die Brücke in die Stadt zu gehen, sondern einen weiteren Tag hier zu bleiben. Und ihr gesammelter Wunsch, dass morgen doch einfach nur genauso sein sollte wie heute, verwusch ihre Erinnerung und hielt ihre Körper und sogar das Wetter in einem Zustadt fest, der doch eigentlich nach einem Moment wieder vorbei vorbei sein sollte; so wie die Wut meiner Klassenkameraden noch über achtzehn Jahre hinweg diese Eiswaffel in meiner Hand kaputt gemacht hatte.
„Also?“, sagte die junge Vanessa zu mir: „Willst du jetzt gehen, oder nicht?“
Ich wusste: wenn ich mich jetzt entscheiden würde, zu bleiben, würde ich morgen wieder so entscheiden, und weiter so bis in alle Ewigkeit. Und es würde schön sein.
Aber wie ich so auf die junge Vanessa sah und dachte, wie ihr bloßer Anblick mich damals immer so aus der Spur hauen konnte, war ich doch ganz froh, diesem Alter entwachsen zu sein.
Und ich wollte das Weiterwachsen nicht aufgeben, also verabschiedete ich mich von ihr – mit mir kommen würde sie sowieso nicht, egal, was ich sagte. „Alles Gute“, wünschte ich ihr, als wir uns umarmten, und sie sagte: „Mach's gut!“ – – Dann überquerte ich die Brücke, zurück in die Stadt.
– – –
Ich werde nie wieder über diese Brücke gehen. Jetzt, auf dieser Seite, das die Entscheidung, die ich jedes Mal treffe, wenn ich vorbeikomme: ich habe zu viel Angst, nicht mehr zurück zu wollen, wenn ich einmal drüben bin.
Vanessa ist immernoch jung, da gehe ich von aus. Ich habe mir vor kurzem eine Gleitsichtbrille zulegen müssen. Sie wird auch noch jung sein, wenn ich sterbe. Aber ich werde bis dahin gelebt haben; und sie nicht.