zum Zuhören:
zum Selberlesen:
Mein neuer Nachbar spielt Fanfare.
Die Fanfare ist ein recht eindimensionales Instrument: sie hat an einem Ende ein Mundstück und am anderen einen Trichter, und dazwischen ein gerades Rohr und keine Ventile. Man kann darauf keine allzu interessanten Melodien spielen.
Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt hauptamtliche Fanfarenspieler gibt – wenn ein Orchester eine Fanfare braucht, kann man nicht einen von den Trompetern oder Posaunisten dafür nehmen? Ich meine, so spezifische Besonderheiten kann die Fanfare doch nicht haben, oder?
Aber der Typ in der Wohnung nebenan spielt wirklich nichts anderes als Fanfare. Und zwar spielt er Tusch. Und zwar immer den selben. Ich muss zugeben, dass es der absolut epischste, großartigste Tusch ist, den ich je gehört habe, und für ein Stück dieses Musikgenres ist er auch echt lang – genau 2 Minuten 24 Sekunden, jedes Mal – aber das hilft nicht dagegen, dass die Fanfare in all ihrer archaischen Reinheit leider nunmal auch recht eindimensionale Musik macht.
Ich bin ein eher zurückhaltender Mensch und hatte schon über vierzig Euro in verschiedene Ohrstöpsel investiert, bis ich die Notwendigkeit sah, meinem neuen Nachbarn einmal einen Besuch abzustatten.
Es ist ein Reihenhaus: sieben Etagen plus Keller, und auf jeder Etage vier Wohnungen – man sieht sich mal im Treppenhaus und mal beim Einkaufen, aber das war's eigentlich auch schon. Aber man sagt immer, dass man sich mal mehr kennenlernen müsste, also dachte ich mir, mach es mal auf die ganz nette Art, und ich nahm ein Tablett und ein paar Kekse mit und das Kaffeeservice meiner Großmutter, und ging zur Tür des bisher ganz gesichtslosen Fanfaristen bzw. Fanfaristin, und klingelte.
In der Zeit zwischen dem abrupten Ende des Musikspiels und dem unweigerlichen Öffnen der Türe kam mir der Gedanke, dass Fanfaro bestimmt auch Kaffeetassen besaß, und ob es nicht ein bisschen bescheuert wäre, mein eigenes Service mitzubringen... Und überhaupt: einfach so aufzukreuzen, an einfach irgendeinem Tag zu irgendeiner Stunde, war das nicht ein bisschen aufdringlich?
Und ich würde ihm oder ihr auch gar nicht die Hand geben können, solang ich dieses Tablett trug. Vielleicht stellte ich es besser ab? Aber dann tritt er noch drauf...
Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit auf den Typen mit der Fanfare, und kam mir dabei langsam immer dämlicher vor.
Aber die Erlösung kam, und vor mit stand ein äußerst gutaussehender Mann von unbestimmbarem Alter, irgendwas zwischen 24, 33 und 49, keine Ahnung. Er bat mich rein, und kurz darauf saßen wir an seinem Couchtisch und redeten über das Wetter und Fußball und Gentrifizierung, und so langsam lenkte ich das Thema auf seine Musik.
Er sagte, dass es ihm sehr leid tue, falls er mir damit auf die Nerven gegangen sei. Er sei eigentlich ja ein Könner, ein unangefochtener Meister seines Fachs, aber es stehe ihm der wichtigste Auftritt seiner ganzen Existenz bevor, und das mache ihn etwas nervös.
Ob er bald sei, dieser Auftritt?
Nein, sagte er, noch etwas hin. Ziemlich lange eigentlich.
Und dann sagte er, dass er das mit dem Üben mir zuliebe für ein paar Jahre bleiben lassen würde.
Für Jahre?!, kam es aus mir heraus, wann dieser Auftritt denn sei?
Noch recht lang, sagte er, er sei aufgrund eines Fehlers in der Reisedisposition viel zu früh angekommen. Dieses Warten mache einen fertig, sagte er. Wie ich es denn aushielte?
Was aushielte?
Na, das Warten, sagte er. Ganz allgemein.
Kommt ganz drauf an, worauf, sagte ich. Wenn es etwas Schönes ist, kann man sich ja sogar darauf freuen. Also – meinte ich –, sein Konzert sei doch bestimmt ein wunderbares Ereignis, oder?
Wunderbar ja, sagte er, auf jeden Fall wunderbar im Sinne von: so-wie-ein-Wunder... aber schön nicht unbedingt.
Warum denn?, fragte ich.
Er sagte: ich spiele den Tusch, und dann erheben sich die Toten aus ihren Gräbern, vier Reiter auf komisch gefärbten Pferden verwüsten die Erde, ein Lamm schlägt nacheinander sieben Siegel eines Buches ab, und am Ende werden die Menschen gerichtet und ein paar Gerechte kommen ins Himmelreich, und die anderen bleiben unten.
Oh, sagte ich.
(Was soll man auch sagen? Mein erster Gedanke war, dass er verrückt war, aber bei genauerem Hinsehen waren lauter kleine Wunder um ihn herum: der Keksstapel hätte physikalisch gesehen längst umkippen müssen, die Tasse in seiner Hand hatte plötzlich diesen einen Sprung nicht mehr, den sie immer schon gehabt hatte, und durch sein Fenster schien die Abendsonne herein, obwohl es nach Norden raus ging. Nicht dass die Sonne ihn betroffen hätte – es wirkte, als sei er ganz unabhängig von allen Lichtquellen. So, als ob er einfach aus sich selbst heraus immer sichtbar sei.)
Oh, sagte ich, nocheinmal.
Und: Muss ich jetzt auf die Knie fallen oder so?
Bitte nicht, sagte der Engel, das hätten die Sektenheinis aus dem Keller schon gemacht.
(Hierzu muss man wissen, dass im Keller dieses Hauses ein entsprechend ausgebauter Raum vorhanden ist. Das Haus hatte mal einer schlagenden Studentenverbindung gehört, die dort im Keller ihren Kleinen Kneipsaal (sprich: 'Partykeller') hatten. Als die sich dann irgendwann auflöste, weil die Mitglieder anfingen, sich gegenseitig wegen gefährlicher Körperverletzung anzuzeigen, konnte man da im Keller keine extrabillige Studi-Wohnung einbauen wie in den Häusern ringsum, wegen Brandschutz. Also hat die Vermietergesellschaft sich eine spirituelle Gemeinschaft reingeholt, die jetzt bei uns im Keller ihre geistlichen Versammlungen abhalten. Sie sind sehr höflich und gut gekleidet und lächeln einen auf diese gewisse Weise an, dass man keine Lust bekommt, weiter mit ihnen zu reden, und sie erwarten die Wahrhaftig Stoffliche Wiederkunft des Herrn oder sowas.
Während ihrer Versammlungen hängt immer ein Schild im Flur, dass einen höflich fragt, doch bitte möglichst leise zu sein, wenn es keine Mühe mache.)
Sektenheinis?, sagte ich zu dem Engel: Ich hätte jetzt gedacht, dass du dich gerade mit denen voll gut verstehst. Ihr seid doch irgendwie vom gleichen Verein, oder?
Der Engel druckste ein bisschen rum. Dann erzählte er:
Anfangs habe man sich verstanden, ja. Das mit dem Niederfallen fand ich sogar ganz schön – jaja, ich weiß, Hochmut ist eine Todsünde. Aber ich dachte so, für mich gilt das doch nicht, oder? Jedenfalls haben wir uns gut verstanden... Aber dann haben sie mich gefragt, wann es denn endlich soweit sei, und endlich vorbei sei mit diesem gomorrhischen Sündenpfuhl, in dem sie leben müssten. Und ich sagte ihnen leider genau das, was ich weiß... Vielleicht hätte ich schwindeln sollen. Aber da bin ich einfach nicht gut drin. Wahrscheinlich ist mir das einfach vom Wesen her nicht möglich, etwas anderes zu sagen als die Wahrheit.
Und?, wollte ich wissen: Was er denn gesagt habe? Wann es soweit sei?
In dreieinhalb tausend Jahren. Wie gesagt, die Reisedisposition habe einen Fehler gemacht.
Dabei öffnete er das Zuckerdöschen meiner Großmutter und scheffelte sich eine winzige Prise Zucker in den Kaffee, eine reine Verlegenheits-Prise. Dann legte er den Löffel zurück und machte die Zuckerdose wieder zu. Und stellte sie zurück. Und rührte um. Wobei er sich alle Zeit der Welt lies. Bei Licht betrachtet, hatte er die ja auch: exakt alle Zeit der Welt.
Aber mir wurde die Stille langsam unangenehm, darum fragte ich weiter:
Und dann, wie es dann weitergegangen sei mit den Sektenleuten?
Es gab Streit, sagte der Engel: Ein paar hätten sofort gesagt, er sei ein Scharlatan. Oder ein Dämon. Aber einige hätten es auch besser gewusst, und die hätten ihn einfach nur so schnell wie möglich aus ihren Augen haben wollen. Also habe man ihn direkt rausgeschmissen... und das war's. Und danach hätten sie angefangen, immer ihr Bitte-Leise-sein-Schild in den Flur zu hängen, wenn sie gerade da waren.
Und du bist nicht nochmal hin?, fragte ich.
Nö, wieso?, sagte der Engel: Es sei doch deren freier Wille, ob sie ihn dabei haben wollten oder nicht. Und wenn nicht, dann habe er das zu respektieren...
Aber er könne sie doch lehren!, forderte ich, und zu Wahren Gerechten machen oder so. Die machten doch bestimmt auch nicht alles richtig, oder?
Klar, sagte der Engel, vor allem machen sie jede Menge überflüssigen Scheiß. Aber lehren: wieso? Die hätten doch schon ihr Buch, wo alles drin stehe. Und so komplex sei das mit dem Ein-Gerechter-Mensch-sein jetzt auch nicht.
Aber was hätten sie denn dann gegen ihn gehabt? – als ich das fragte, hätte ich ihn gern noch beim Namen genannt; aber den kannte ich immernoch nicht.
Seraphim, sagte er. Ich könne ihn auch Sefi nennen.
Danke.
Und dann überlegte er weiter, laut:
Ja, er wisse es nicht genau. Die gingen doch insgeheim wohl alle davon aus, dass sie dereinst zu den Geretteten gehören würden. Und alle Toten würden rechtzeitig vor dem Gericht wiedererweckt – also hätten sie auch nicht zu befürchten, dass sie etwas verpassen würden, wenn sie vorher sterben.
Nein, wahrscheinlich sei es eben andersherum: Vielleicht seien sie darüber enttäuscht, dass sie vor dem Jüngsten Gericht doch tatsächlich noch ihr komplettes Leben hinter sich zu bringen hätten.
Darum habe er, sagte der Engel, auch mich gefragt, wie ich das denn aushalten würde. Mit dem Warten.
Ich konnte ihm auch keinen Trick verraten. Denk halt nicht dran, hab ich ihm gesagt.
Das gehe nicht.
Dann mach irgendwas anderes.
Weil er wirklich ausgesprochen attraktiv aussah, hab ich ihn dann angefangen, ihn ein bisschen mehr anzuflirten und er ist auch drauf eingestiegen, aber irgendwie war dann auf halbem Wege die Luft raus; und schließlich saßen wir wieder auf seiner Couch und aßen CurryKing.
Es ist echt nicht einfach, mit jemandem auf eine Wellenlänge zu kommen, der noch dreitausendfünfhundert Jahre vor sich hat.
Aber ich weiß gar nicht, ob das daran liegt, dass es so unvorstellbar viel Zeit ist. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass er es so genau weiß: für ihn ist das ganze Leben jetzt doch nur noch ein Hobby. Ich glaub, darum stellt sich mir seine Frage einfach nicht. Es gibt nichts, das ich aushalten müsste, weil ich nicht warte.
Die Fanfare ist ein recht eindimensionales Instrument: sie hat an einem Ende ein Mundstück und am anderen einen Trichter, und dazwischen ein gerades Rohr und keine Ventile. Man kann darauf keine allzu interessanten Melodien spielen.
Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt hauptamtliche Fanfarenspieler gibt – wenn ein Orchester eine Fanfare braucht, kann man nicht einen von den Trompetern oder Posaunisten dafür nehmen? Ich meine, so spezifische Besonderheiten kann die Fanfare doch nicht haben, oder?
Aber der Typ in der Wohnung nebenan spielt wirklich nichts anderes als Fanfare. Und zwar spielt er Tusch. Und zwar immer den selben. Ich muss zugeben, dass es der absolut epischste, großartigste Tusch ist, den ich je gehört habe, und für ein Stück dieses Musikgenres ist er auch echt lang – genau 2 Minuten 24 Sekunden, jedes Mal – aber das hilft nicht dagegen, dass die Fanfare in all ihrer archaischen Reinheit leider nunmal auch recht eindimensionale Musik macht.
Ich bin ein eher zurückhaltender Mensch und hatte schon über vierzig Euro in verschiedene Ohrstöpsel investiert, bis ich die Notwendigkeit sah, meinem neuen Nachbarn einmal einen Besuch abzustatten.
Es ist ein Reihenhaus: sieben Etagen plus Keller, und auf jeder Etage vier Wohnungen – man sieht sich mal im Treppenhaus und mal beim Einkaufen, aber das war's eigentlich auch schon. Aber man sagt immer, dass man sich mal mehr kennenlernen müsste, also dachte ich mir, mach es mal auf die ganz nette Art, und ich nahm ein Tablett und ein paar Kekse mit und das Kaffeeservice meiner Großmutter, und ging zur Tür des bisher ganz gesichtslosen Fanfaristen bzw. Fanfaristin, und klingelte.
In der Zeit zwischen dem abrupten Ende des Musikspiels und dem unweigerlichen Öffnen der Türe kam mir der Gedanke, dass Fanfaro bestimmt auch Kaffeetassen besaß, und ob es nicht ein bisschen bescheuert wäre, mein eigenes Service mitzubringen... Und überhaupt: einfach so aufzukreuzen, an einfach irgendeinem Tag zu irgendeiner Stunde, war das nicht ein bisschen aufdringlich?
Und ich würde ihm oder ihr auch gar nicht die Hand geben können, solang ich dieses Tablett trug. Vielleicht stellte ich es besser ab? Aber dann tritt er noch drauf...
Ich wartete eine gefühlte Ewigkeit auf den Typen mit der Fanfare, und kam mir dabei langsam immer dämlicher vor.
Aber die Erlösung kam, und vor mit stand ein äußerst gutaussehender Mann von unbestimmbarem Alter, irgendwas zwischen 24, 33 und 49, keine Ahnung. Er bat mich rein, und kurz darauf saßen wir an seinem Couchtisch und redeten über das Wetter und Fußball und Gentrifizierung, und so langsam lenkte ich das Thema auf seine Musik.
Er sagte, dass es ihm sehr leid tue, falls er mir damit auf die Nerven gegangen sei. Er sei eigentlich ja ein Könner, ein unangefochtener Meister seines Fachs, aber es stehe ihm der wichtigste Auftritt seiner ganzen Existenz bevor, und das mache ihn etwas nervös.
Ob er bald sei, dieser Auftritt?
Nein, sagte er, noch etwas hin. Ziemlich lange eigentlich.
Und dann sagte er, dass er das mit dem Üben mir zuliebe für ein paar Jahre bleiben lassen würde.
Für Jahre?!, kam es aus mir heraus, wann dieser Auftritt denn sei?
Noch recht lang, sagte er, er sei aufgrund eines Fehlers in der Reisedisposition viel zu früh angekommen. Dieses Warten mache einen fertig, sagte er. Wie ich es denn aushielte?
Was aushielte?
Na, das Warten, sagte er. Ganz allgemein.
Kommt ganz drauf an, worauf, sagte ich. Wenn es etwas Schönes ist, kann man sich ja sogar darauf freuen. Also – meinte ich –, sein Konzert sei doch bestimmt ein wunderbares Ereignis, oder?
Wunderbar ja, sagte er, auf jeden Fall wunderbar im Sinne von: so-wie-ein-Wunder... aber schön nicht unbedingt.
Warum denn?, fragte ich.
Er sagte: ich spiele den Tusch, und dann erheben sich die Toten aus ihren Gräbern, vier Reiter auf komisch gefärbten Pferden verwüsten die Erde, ein Lamm schlägt nacheinander sieben Siegel eines Buches ab, und am Ende werden die Menschen gerichtet und ein paar Gerechte kommen ins Himmelreich, und die anderen bleiben unten.
Oh, sagte ich.
(Was soll man auch sagen? Mein erster Gedanke war, dass er verrückt war, aber bei genauerem Hinsehen waren lauter kleine Wunder um ihn herum: der Keksstapel hätte physikalisch gesehen längst umkippen müssen, die Tasse in seiner Hand hatte plötzlich diesen einen Sprung nicht mehr, den sie immer schon gehabt hatte, und durch sein Fenster schien die Abendsonne herein, obwohl es nach Norden raus ging. Nicht dass die Sonne ihn betroffen hätte – es wirkte, als sei er ganz unabhängig von allen Lichtquellen. So, als ob er einfach aus sich selbst heraus immer sichtbar sei.)
Oh, sagte ich, nocheinmal.
Und: Muss ich jetzt auf die Knie fallen oder so?
Bitte nicht, sagte der Engel, das hätten die Sektenheinis aus dem Keller schon gemacht.
(Hierzu muss man wissen, dass im Keller dieses Hauses ein entsprechend ausgebauter Raum vorhanden ist. Das Haus hatte mal einer schlagenden Studentenverbindung gehört, die dort im Keller ihren Kleinen Kneipsaal (sprich: 'Partykeller') hatten. Als die sich dann irgendwann auflöste, weil die Mitglieder anfingen, sich gegenseitig wegen gefährlicher Körperverletzung anzuzeigen, konnte man da im Keller keine extrabillige Studi-Wohnung einbauen wie in den Häusern ringsum, wegen Brandschutz. Also hat die Vermietergesellschaft sich eine spirituelle Gemeinschaft reingeholt, die jetzt bei uns im Keller ihre geistlichen Versammlungen abhalten. Sie sind sehr höflich und gut gekleidet und lächeln einen auf diese gewisse Weise an, dass man keine Lust bekommt, weiter mit ihnen zu reden, und sie erwarten die Wahrhaftig Stoffliche Wiederkunft des Herrn oder sowas.
Während ihrer Versammlungen hängt immer ein Schild im Flur, dass einen höflich fragt, doch bitte möglichst leise zu sein, wenn es keine Mühe mache.)
Sektenheinis?, sagte ich zu dem Engel: Ich hätte jetzt gedacht, dass du dich gerade mit denen voll gut verstehst. Ihr seid doch irgendwie vom gleichen Verein, oder?
Der Engel druckste ein bisschen rum. Dann erzählte er:
Anfangs habe man sich verstanden, ja. Das mit dem Niederfallen fand ich sogar ganz schön – jaja, ich weiß, Hochmut ist eine Todsünde. Aber ich dachte so, für mich gilt das doch nicht, oder? Jedenfalls haben wir uns gut verstanden... Aber dann haben sie mich gefragt, wann es denn endlich soweit sei, und endlich vorbei sei mit diesem gomorrhischen Sündenpfuhl, in dem sie leben müssten. Und ich sagte ihnen leider genau das, was ich weiß... Vielleicht hätte ich schwindeln sollen. Aber da bin ich einfach nicht gut drin. Wahrscheinlich ist mir das einfach vom Wesen her nicht möglich, etwas anderes zu sagen als die Wahrheit.
Und?, wollte ich wissen: Was er denn gesagt habe? Wann es soweit sei?
In dreieinhalb tausend Jahren. Wie gesagt, die Reisedisposition habe einen Fehler gemacht.
Dabei öffnete er das Zuckerdöschen meiner Großmutter und scheffelte sich eine winzige Prise Zucker in den Kaffee, eine reine Verlegenheits-Prise. Dann legte er den Löffel zurück und machte die Zuckerdose wieder zu. Und stellte sie zurück. Und rührte um. Wobei er sich alle Zeit der Welt lies. Bei Licht betrachtet, hatte er die ja auch: exakt alle Zeit der Welt.
Aber mir wurde die Stille langsam unangenehm, darum fragte ich weiter:
Und dann, wie es dann weitergegangen sei mit den Sektenleuten?
Es gab Streit, sagte der Engel: Ein paar hätten sofort gesagt, er sei ein Scharlatan. Oder ein Dämon. Aber einige hätten es auch besser gewusst, und die hätten ihn einfach nur so schnell wie möglich aus ihren Augen haben wollen. Also habe man ihn direkt rausgeschmissen... und das war's. Und danach hätten sie angefangen, immer ihr Bitte-Leise-sein-Schild in den Flur zu hängen, wenn sie gerade da waren.
Und du bist nicht nochmal hin?, fragte ich.
Nö, wieso?, sagte der Engel: Es sei doch deren freier Wille, ob sie ihn dabei haben wollten oder nicht. Und wenn nicht, dann habe er das zu respektieren...
Aber er könne sie doch lehren!, forderte ich, und zu Wahren Gerechten machen oder so. Die machten doch bestimmt auch nicht alles richtig, oder?
Klar, sagte der Engel, vor allem machen sie jede Menge überflüssigen Scheiß. Aber lehren: wieso? Die hätten doch schon ihr Buch, wo alles drin stehe. Und so komplex sei das mit dem Ein-Gerechter-Mensch-sein jetzt auch nicht.
Aber was hätten sie denn dann gegen ihn gehabt? – als ich das fragte, hätte ich ihn gern noch beim Namen genannt; aber den kannte ich immernoch nicht.
Seraphim, sagte er. Ich könne ihn auch Sefi nennen.
Danke.
Und dann überlegte er weiter, laut:
Ja, er wisse es nicht genau. Die gingen doch insgeheim wohl alle davon aus, dass sie dereinst zu den Geretteten gehören würden. Und alle Toten würden rechtzeitig vor dem Gericht wiedererweckt – also hätten sie auch nicht zu befürchten, dass sie etwas verpassen würden, wenn sie vorher sterben.
Nein, wahrscheinlich sei es eben andersherum: Vielleicht seien sie darüber enttäuscht, dass sie vor dem Jüngsten Gericht doch tatsächlich noch ihr komplettes Leben hinter sich zu bringen hätten.
Darum habe er, sagte der Engel, auch mich gefragt, wie ich das denn aushalten würde. Mit dem Warten.
Ich konnte ihm auch keinen Trick verraten. Denk halt nicht dran, hab ich ihm gesagt.
Das gehe nicht.
Dann mach irgendwas anderes.
Weil er wirklich ausgesprochen attraktiv aussah, hab ich ihn dann angefangen, ihn ein bisschen mehr anzuflirten und er ist auch drauf eingestiegen, aber irgendwie war dann auf halbem Wege die Luft raus; und schließlich saßen wir wieder auf seiner Couch und aßen CurryKing.
Es ist echt nicht einfach, mit jemandem auf eine Wellenlänge zu kommen, der noch dreitausendfünfhundert Jahre vor sich hat.
Aber ich weiß gar nicht, ob das daran liegt, dass es so unvorstellbar viel Zeit ist. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass er es so genau weiß: für ihn ist das ganze Leben jetzt doch nur noch ein Hobby. Ich glaub, darum stellt sich mir seine Frage einfach nicht. Es gibt nichts, das ich aushalten müsste, weil ich nicht warte.