Ein wenig zu warme Sommerluft kam herein, als Tür der Werkstatt sich öffnete und Gregor hereinkam.
„Hallo, Jonathan!“, rief er in den Raum.
„Gregor.“ Jonathan erhob sich von seinem Schreibtisch und umarmte seinen Freund: „Wie geht es dir?“
„Ausgezeichnet!“, meinte Gregor. Sie gingen nach draußen, um den Wagen abzuladen; Gregor löste die Plane und schlug sie zurück. Dabei erzählte er von der Tour, die er hatte machen müssen, um all die neuen Bauteile abzuholen: die meisten waren aus Metall und mussten als Einzelstücke gegossen werden; dann gab es Chemikalien, die nur in speziellen Labors hatten hergestellt werden können; endlose elektrische Leiter und noch zwei große Holzkisten, gekennzeichnet mit dem Hinweis „Empfindliche Fracht“. Sie luden gemeinsam ab und schafften ein Bauteil nach dem anderen in Jonathans Werkstatt.
Endlich würde er die Maschine vollenden können! Er hatte ihrer theoretischen Planung und Konstruktion in den letzten Jahren seine ganze Kraft gewidmet, hatte sein ganzes Vermögen investiert und war zu keinem gesellschaftlichen Ereignis mehr gegangen, außer um sich bei Labordirektoren einzuschleimen, bei denen er auf der Warteliste stand, oder um spezialisierte Zulieferer kennenzulernen. Teile der Konstruktion musste er ja leider aus der Hand geben.
„Ich habe in Genf gehört, dass eine Revolution in der Entwicklung von Elektromagneten bevorsteht. Sie sollen kleiner und leichter sein als alles bekannte!“ – Gregor versuchte also mal wieder, ihn für neuartige Spielereien zu begeistern.
„Gregor, die Maschine wird auch so funktionieren. Ich brauche keine revolutionären Minimagnete mehr.“
„Ist ja gut –“, sie gingen gerade zum Wagen zurück und hoben die nächste Kabeltrommel an. „Ich meine nur, es wird bestimmt präziser, wenn du die verwenden würdest. Wenn du diesen kleinen Schritt nicht noch abwarten willst, weißt du nicht mal, was dir entgeht!“
Abwarten, darum ging es ihm also. Darum ging es Gregor immer: Jonathan auszubremsen. Allein seine Freundschaft sorgte dafür, dass er Jonathan überhaupt half, obwohl er dazu bestimmt auch nicht alles tat, was er hätte tun können. Sie luden die Kabeltrommel ab.
„Es entgeht mir was, ja. Aber das ist irrelevant. Ich weiß, dass die Maschine funktionieren wird, und das ist die einzige Bedingung.“
Auf der Ladefläche lagen jetzt nur noch, fest verzurrt, die zwei Holzkisten. Das war falsch. Es hätten drei sein sollen. Jonathan stieg auf, löste die Riemen und öffnete eine der Kisten. Sie enthielt hauptsächlich Dämmstoff, um Erschütterungen abzuhalten, und darin vergraben eine armlange, eng gewickelte Kupferspule mit konzentrischen Glas- und Metallkernen, die in einem Dorn auslief. Er schlug den Deckel zu und öffnete die zweite Kiste, auch sie enthielt nur eine Spule – einzeln verpackt, genau wie er es festgelegt hatte. Er sah zu Gregor, der vor der Ladefläche stand und ihn ansah.
„Bogner hat gesagt, dass er die Spule nicht hatte wickeln können...“
Jonathan ließ die Kiste zufallen und erhob sich: „Warum.“
„Der Draht ist ihm nicht geliefert worden. Es gab auf dem Transport eine Verzögerung.“
„Wodurch?“
„Bogner meinte, dass eine Brücke wohl nicht passierbar gewesen wäre… wegen Hochwassers.“
„Wegen Hochwassers. Gab es keine Warnung davor?“
„Ich weiß es nicht, Jonathan...“
„Bestimmt gab es eine Warnung. Alle Hochwasser werden gemeldet, sobald sie auftreten, und zu dem Zeitpunkt ist die Engertalbrücke noch lange befahrbar.“
„Ja, wahrscheinlich gab es eine Warnung. Aber…“
„Und der Spediteur, Ingmar Karlssen, der sich rühmt, der Pünktlichste und der Sicherste von allen zu sein, informiert sich nicht über…“ – er hasste diesen Ausdruck: „Höhere Gewalt?“
Gregor wand sich. „Anscheinend, ich kann es dir auch nicht sagen.“
„Aber er hat die anderen Drähte schon transportiert? Die vom selben Werk gefertigt wurden und sich weder im Gesamtgewicht noch in der Weise, wie man sie behandeln muss, unterscheiden?“
„Da muss man von ausgehen.“
„Da muss man also von ausgehen! Soll ich davon ausgehen, dass ich meine Spule in den nächsten Jahren noch bekomme? Soll Bogner davon ausgehen, dass der Draht gleichmäßig dick und leitfähig ist? Ich habe Zusagen bekommen, Gregor, Zusagen! Ich vertraue dieser Maschine mein Leben an. Bogner, Ingmar Karlssen, Hinz und Kunz vertraue ich mein verfluchtes Leben an und ich soll mal davon ausgehen, dass sie, wenn sie einen guten Tag haben, zumindest mal versuchen werden, dass sie ihre Zusagen auch einhalten!?“
„Jonathan! Du steigerst dich da rein, vielleicht war es einfach nicht vorhersehbar, dass es dieses Hochwasser in dieser Stärke geben würde. Vielleicht waren die Messungen der Meteorologen nicht exakt gewesen… oder ihnen fehlten noch Faktoren.“
„Oh, ja. Das kann sein. Wie du schon sagst: vielleicht fehlten noch Faktoren. Verdammte Scheiße!“ Er schlug gegen die Seitenwand der Ladefläche. Von den Befestigungsriemen gelöst, fiel sie polternd herunter.
„Immer fehlen noch Faktoren, überall! Es ist hoffnungslos. Aber ich bin ja nicht so irre, dass ich versuche, eine Maschine zu bauen, die zuverlässige Vorhersagen treffen kann.“
Gregor sah seinen nicht mehr tobenden Freund an, aber er behielt seinen Abstand von zwei Schritten dabei ein. „Das stimmt. So irre bist du nicht.“
Jonathan heftete seinen Blick auf Gregor: „meinst du: nicht auf diese Weise irre?“
Gregor sah weg. Er meinte es, und diese Worte standen im Raum, zwischen den beiden.
Jonathan wusste, dass Gregor es nie zugeben würde, aber er hatte ihm nur geholfen, um ihn von seinem Plan abzubringen. Die ganze Zeit hatte er versucht, Jonathan zu beeinflussen, dazu zu bringen, dass er aufhören würde. Aber Jonathan würde nicht aufhören.
„Gregor, die Maschine wird funktionieren. Das weißt du. Ich überprüfe alle Bauteile vor der Konstruktion persönlich.“
„Denkst du, dass ich dich sabotieren würde?“
„Du hilfst mir doch eh nur, um dabei meinen Willen zu sabotieren, Gregor. Was hättest du gemacht, wenn ich zugesagt hätte, auf die neuartigen Spulen zu warten? Du wärst mit mir nach Genf gefahren, ‘damit wir sie sofort in Auftrag geben und mitnehmen können’. Und in Genf hättest du mich in Cafés geschleppt, auf irgendwelche Feste, oder vielleicht Wan-derungen durch Gärten gemacht und was weiß ich.“
Gregor schien ertappt. Jonathan kam vom Wagen herab und auf ihn zu. „Tatsächlich in Gärten? So verzweifelt bist du? Ich sage dir: ich hätte schon im Café das Falsche serviert bekommen, außerdem zu spät, und bei den Feiern hätte man mich ausgelacht. Ich hätte auf die Lösung des letzten – ‘oh, es ist wirklich das allerletzte Problemchen, wir stehen vor dem Durchbruch!’ – also auf die Lösung des zwanzigsten allerletzten Problemchens gewartet, dass die mit ihren Ferroliquidmagneten haben, und nein, ich hätte keinen Gefallen daran gefunden. Es tut mir leid, Gregor, aber so ist das Leben nunmal. Schön ist es nicht. Und der Tod ist ungewiss, also ist der einzige Ausweg meine Maschine.“
„Kein Zeitgefühl? keine Erinnerung? Der völlige Stillstand?“
„Stillstand? Du Ahnungsloser! Es ist die Ewigkeit.“
Als die Spule endlich gefertigt und geliefert war, war Gregor schon lange nicht mehr dabei. Jonathan baute die Spule ein und justierte sie. Dann ging er nach vorne zum Eingang des Bunkers, in dem er die Maschine aufgebaut hatte. Der Eingang war möglichst unauffällig in einen natürlichen Steilhang eingelassen, am Ende einer kurzen Stückes Tunnel, das Gregor nach der Aktivierung der Maschine hätte sprengen sollen. Er war jetzt nicht da, aber er hätte es sowieso nicht getan.
Jonathan verschloss das äußere Schott, danach das mittlere und das innere. Nun stand er in dem Raum mit der Maschine, sie war bereit. Er stellte sich an seinen Platz, streckte den Arm aus und aktivierte sie. Seine metallenen Knöpfe veränderten ihre Position, als das elektromagnetische Feld um ihn aufgebaut wurde und sein Gehirn durchflutete. Er sah den Raum um sich: darin ein großer Schreibtisch, auf dem noch die letzten Pläne und Berechnungen lagen, ein schmales Bett, auf dem er manchmal genächtigt hatte, ein hoher schmaler Schrank mit Werkzeug, Messgerät und weiteren Unterlagen, direkt vor ihm die innere Tür, dick und mit Riegeln ringsum, und an der Decke eine einfache Lampe.
Als letzter Punkt der Aktivierungssequenz würde das Licht ausgeschaltet werden.
Die Birne flackerte und verlosch. Er dachte:
Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert...
–
Martine Belafonte hatte von einem Wanderer, der sich verirrt hatte, eine interessante Geschichte gehört: dass es in einer kleinen unscheinbaren Klippe im Wald, an irgendeinem Hang irgendeines Berges, einen Tunnel gäbe, der mit einer alten, massiven Tür endet. Sofort hatte die Archäologin Unterlagen und alte militärische Karten nach Bunkern durchsucht, aber keinen gefunden. Das stachelte sie an, die mysteriöse Tür im Berg zu suchen.
Sie hatte sie tatsächlich ausfindig gemacht, und nachdem sie ihren Fund veröffentlicht hatte, hatte sie staatliche Gelder zur Verfügung gestellt bekommen. Jetzt konnte sie mit einem kleinen Team und der nötigen Ausrüstung zu dem Tunnel zurückkehren und die alte Panzertür an dessen Ende aufbrechen. Morgens waren sie angekommen, am Mittag stand sie endlich vor dem offenen Durchgang.
Die Tür lag davor im Tunnel. Sie war einen halben Meter mächtig und auf der Rückseite von zwei Bolzen auf jeder Seite festgehalten worden – sie hatten die Wände daneben auf-stemmen müssen, um die Tür wegzubewegen. Die Stelle, an der die Tür gewesen war, war ein schwarzes Loch.
Martine hob ihre Lampe und trat ein.
Sie musste an die Atommüllendlager denken, wo man sich immer fragte: Wie halten wir die Menschen in der Zukunft davon ab, hier hin zu gehen? Welche Zeichen würden sie verstehen, und woran würden sie sich halten? Sie dachte auch an die Grabkammer Tutanchamuns: die, die als erste dort eingedrungen waren, starben später an Lungentumoren, ausgelöst von Sporen eines tödlichen Schimmelpilzes aus dem Grab, von dem immernoch nicht klar war, ob er sich dort selbst gebildet hatte oder von den ägyptischen Priestern dort platziert worden war. Sie zog sich die Gasmaske über Nase und Mund.
Hinter zwei weiteren Türen fand sie schließlich einen großen, holzvertäfelten Raum, der fast zur Gänze von einer komplexen Maschine beansprucht wurde. Davor waren nur ein Schreib-tisch, ein Schlafplatz und ein Schrank. Aber vorne, an der Spitze der Maschine, stand, an eine Art Liege gelehnt und den Kopf in eine Hufeisenform eingepasst, ein Mann, der starr zur Decke blickte.
Er war überhaupt nicht mumifiziert – gerade so, als habe er sich eben erst dorthin gestellt. Martine hielt inne und senkte die Laterne. Er starrte zur Deckenlampe… und jetzt sah sie, dass er blinzelte. Sie beobachtete ihn, und er blinzelte. Alle sechs Sekunden. Sie näherte sich ihm. Die Spulen um seinen Kopf schienen ein starkes Magnetfeld zu erzeugen, es verdrehte die Gasmaske und zog an ihr. Sie nahm sie herunter, als der Mann plötzlich die Augen zu ihr drehte und sie ansah. Er atmete schwach.
Erschrocken wich sie zurück. Er sah weiter geradeaus, dann wieder hoch. Dann fing er an, sich zu bewegen: er machte einen Schritt nach vorne von der Liege weg, streckte den Arm nach der Deckenlampe hoch, griff die Glühbirne und drehte sie leicht, während er die Lampe unentwegt anstarrte. Martine wich zurück und beobachtete ihn stumm. Nachdem die Birne ganz fest war, knickten die Beine des Mannes ein und seine Hand rutschte von der Birne ab. Seine Knie prallten auf den Boden, dann schlug er der Länge nach hin. Martine ließ die Lampe fallen und lief nach draußen.
–
Jonathan sah wieder. Es war anstrengend, aber er sah. Direkt vor seinen Augen eine hölzerne Fläche, einen Boden. An verschiedenen Stellen seines Körpers spürte er den Druck desselben Bodens auf der Haut. Er sah außerdem Furchen und kleine Erhebungen auf den Brettern, die nach rechts kleine Schatten warfen. Die Schatten wurden wiederum von anderen Dellen und Puckeln verformt. Sie bildeten wilde Muster… er betrachtete die Muster. Sie waren interessant. An einer Fuge zwischen den Dielen verschwanden die Schatten alle im Dunkel. Was wäre wohl darunter? Steinplatten, und dann Erdreich, er wusste es. Aber er genoss es, den Blick an den kleinen Schatten und Unebenheiten entlang gleiten zu lassen, in die Fuge hinein, und er genoss den Zauber dieses Dunkels, in das sie verschwanden. Er dachte an die Zimmerbeleuchtung, die Glühbirne an der Decke. Von ihrem Platz aus könnte sie in die Fuge hineinleuchten. Aber es war gut, dass sie aus war. Es hätte den Zauber kaputt gemacht.
Er erinnerte sich: er hatte die Glühbirne festgedreht. Was für ein Unsinn, sie hatte doch völlig ausreichend funktioniert! Und was für ein Unsinn, 100 Jahre in der Dunkelheit zu stehen und den Verstand an einem solchen Gedanken zu verschwenden wie „Ich muss die Lampe noch festdrehen“!
Der Verstand arbeitete jetzt wieder. Und das war eine Wonne, Grund genug um ihn auch arbeiten zu lassen; um hinaus-zugehen, und das Leben zu beginnen.
Er platzierte nacheinander die fünf Fingerspitzen, dann die Finger und dann die Handfläche seiner rechten Hand neben sich auf dem Holz und stemmte sich hoch. Er sah am Ende seines Tunnels Licht schimmern. Tageslicht.
Jonathan ging durch den Tunnel, trat nach draußen und atmete lange Zeit ein. Er lächelte.
„Hallo, Jonathan!“, rief er in den Raum.
„Gregor.“ Jonathan erhob sich von seinem Schreibtisch und umarmte seinen Freund: „Wie geht es dir?“
„Ausgezeichnet!“, meinte Gregor. Sie gingen nach draußen, um den Wagen abzuladen; Gregor löste die Plane und schlug sie zurück. Dabei erzählte er von der Tour, die er hatte machen müssen, um all die neuen Bauteile abzuholen: die meisten waren aus Metall und mussten als Einzelstücke gegossen werden; dann gab es Chemikalien, die nur in speziellen Labors hatten hergestellt werden können; endlose elektrische Leiter und noch zwei große Holzkisten, gekennzeichnet mit dem Hinweis „Empfindliche Fracht“. Sie luden gemeinsam ab und schafften ein Bauteil nach dem anderen in Jonathans Werkstatt.
Endlich würde er die Maschine vollenden können! Er hatte ihrer theoretischen Planung und Konstruktion in den letzten Jahren seine ganze Kraft gewidmet, hatte sein ganzes Vermögen investiert und war zu keinem gesellschaftlichen Ereignis mehr gegangen, außer um sich bei Labordirektoren einzuschleimen, bei denen er auf der Warteliste stand, oder um spezialisierte Zulieferer kennenzulernen. Teile der Konstruktion musste er ja leider aus der Hand geben.
„Ich habe in Genf gehört, dass eine Revolution in der Entwicklung von Elektromagneten bevorsteht. Sie sollen kleiner und leichter sein als alles bekannte!“ – Gregor versuchte also mal wieder, ihn für neuartige Spielereien zu begeistern.
„Gregor, die Maschine wird auch so funktionieren. Ich brauche keine revolutionären Minimagnete mehr.“
„Ist ja gut –“, sie gingen gerade zum Wagen zurück und hoben die nächste Kabeltrommel an. „Ich meine nur, es wird bestimmt präziser, wenn du die verwenden würdest. Wenn du diesen kleinen Schritt nicht noch abwarten willst, weißt du nicht mal, was dir entgeht!“
Abwarten, darum ging es ihm also. Darum ging es Gregor immer: Jonathan auszubremsen. Allein seine Freundschaft sorgte dafür, dass er Jonathan überhaupt half, obwohl er dazu bestimmt auch nicht alles tat, was er hätte tun können. Sie luden die Kabeltrommel ab.
„Es entgeht mir was, ja. Aber das ist irrelevant. Ich weiß, dass die Maschine funktionieren wird, und das ist die einzige Bedingung.“
Auf der Ladefläche lagen jetzt nur noch, fest verzurrt, die zwei Holzkisten. Das war falsch. Es hätten drei sein sollen. Jonathan stieg auf, löste die Riemen und öffnete eine der Kisten. Sie enthielt hauptsächlich Dämmstoff, um Erschütterungen abzuhalten, und darin vergraben eine armlange, eng gewickelte Kupferspule mit konzentrischen Glas- und Metallkernen, die in einem Dorn auslief. Er schlug den Deckel zu und öffnete die zweite Kiste, auch sie enthielt nur eine Spule – einzeln verpackt, genau wie er es festgelegt hatte. Er sah zu Gregor, der vor der Ladefläche stand und ihn ansah.
„Bogner hat gesagt, dass er die Spule nicht hatte wickeln können...“
Jonathan ließ die Kiste zufallen und erhob sich: „Warum.“
„Der Draht ist ihm nicht geliefert worden. Es gab auf dem Transport eine Verzögerung.“
„Wodurch?“
„Bogner meinte, dass eine Brücke wohl nicht passierbar gewesen wäre… wegen Hochwassers.“
„Wegen Hochwassers. Gab es keine Warnung davor?“
„Ich weiß es nicht, Jonathan...“
„Bestimmt gab es eine Warnung. Alle Hochwasser werden gemeldet, sobald sie auftreten, und zu dem Zeitpunkt ist die Engertalbrücke noch lange befahrbar.“
„Ja, wahrscheinlich gab es eine Warnung. Aber…“
„Und der Spediteur, Ingmar Karlssen, der sich rühmt, der Pünktlichste und der Sicherste von allen zu sein, informiert sich nicht über…“ – er hasste diesen Ausdruck: „Höhere Gewalt?“
Gregor wand sich. „Anscheinend, ich kann es dir auch nicht sagen.“
„Aber er hat die anderen Drähte schon transportiert? Die vom selben Werk gefertigt wurden und sich weder im Gesamtgewicht noch in der Weise, wie man sie behandeln muss, unterscheiden?“
„Da muss man von ausgehen.“
„Da muss man also von ausgehen! Soll ich davon ausgehen, dass ich meine Spule in den nächsten Jahren noch bekomme? Soll Bogner davon ausgehen, dass der Draht gleichmäßig dick und leitfähig ist? Ich habe Zusagen bekommen, Gregor, Zusagen! Ich vertraue dieser Maschine mein Leben an. Bogner, Ingmar Karlssen, Hinz und Kunz vertraue ich mein verfluchtes Leben an und ich soll mal davon ausgehen, dass sie, wenn sie einen guten Tag haben, zumindest mal versuchen werden, dass sie ihre Zusagen auch einhalten!?“
„Jonathan! Du steigerst dich da rein, vielleicht war es einfach nicht vorhersehbar, dass es dieses Hochwasser in dieser Stärke geben würde. Vielleicht waren die Messungen der Meteorologen nicht exakt gewesen… oder ihnen fehlten noch Faktoren.“
„Oh, ja. Das kann sein. Wie du schon sagst: vielleicht fehlten noch Faktoren. Verdammte Scheiße!“ Er schlug gegen die Seitenwand der Ladefläche. Von den Befestigungsriemen gelöst, fiel sie polternd herunter.
„Immer fehlen noch Faktoren, überall! Es ist hoffnungslos. Aber ich bin ja nicht so irre, dass ich versuche, eine Maschine zu bauen, die zuverlässige Vorhersagen treffen kann.“
Gregor sah seinen nicht mehr tobenden Freund an, aber er behielt seinen Abstand von zwei Schritten dabei ein. „Das stimmt. So irre bist du nicht.“
Jonathan heftete seinen Blick auf Gregor: „meinst du: nicht auf diese Weise irre?“
Gregor sah weg. Er meinte es, und diese Worte standen im Raum, zwischen den beiden.
Jonathan wusste, dass Gregor es nie zugeben würde, aber er hatte ihm nur geholfen, um ihn von seinem Plan abzubringen. Die ganze Zeit hatte er versucht, Jonathan zu beeinflussen, dazu zu bringen, dass er aufhören würde. Aber Jonathan würde nicht aufhören.
„Gregor, die Maschine wird funktionieren. Das weißt du. Ich überprüfe alle Bauteile vor der Konstruktion persönlich.“
„Denkst du, dass ich dich sabotieren würde?“
„Du hilfst mir doch eh nur, um dabei meinen Willen zu sabotieren, Gregor. Was hättest du gemacht, wenn ich zugesagt hätte, auf die neuartigen Spulen zu warten? Du wärst mit mir nach Genf gefahren, ‘damit wir sie sofort in Auftrag geben und mitnehmen können’. Und in Genf hättest du mich in Cafés geschleppt, auf irgendwelche Feste, oder vielleicht Wan-derungen durch Gärten gemacht und was weiß ich.“
Gregor schien ertappt. Jonathan kam vom Wagen herab und auf ihn zu. „Tatsächlich in Gärten? So verzweifelt bist du? Ich sage dir: ich hätte schon im Café das Falsche serviert bekommen, außerdem zu spät, und bei den Feiern hätte man mich ausgelacht. Ich hätte auf die Lösung des letzten – ‘oh, es ist wirklich das allerletzte Problemchen, wir stehen vor dem Durchbruch!’ – also auf die Lösung des zwanzigsten allerletzten Problemchens gewartet, dass die mit ihren Ferroliquidmagneten haben, und nein, ich hätte keinen Gefallen daran gefunden. Es tut mir leid, Gregor, aber so ist das Leben nunmal. Schön ist es nicht. Und der Tod ist ungewiss, also ist der einzige Ausweg meine Maschine.“
„Kein Zeitgefühl? keine Erinnerung? Der völlige Stillstand?“
„Stillstand? Du Ahnungsloser! Es ist die Ewigkeit.“
Als die Spule endlich gefertigt und geliefert war, war Gregor schon lange nicht mehr dabei. Jonathan baute die Spule ein und justierte sie. Dann ging er nach vorne zum Eingang des Bunkers, in dem er die Maschine aufgebaut hatte. Der Eingang war möglichst unauffällig in einen natürlichen Steilhang eingelassen, am Ende einer kurzen Stückes Tunnel, das Gregor nach der Aktivierung der Maschine hätte sprengen sollen. Er war jetzt nicht da, aber er hätte es sowieso nicht getan.
Jonathan verschloss das äußere Schott, danach das mittlere und das innere. Nun stand er in dem Raum mit der Maschine, sie war bereit. Er stellte sich an seinen Platz, streckte den Arm aus und aktivierte sie. Seine metallenen Knöpfe veränderten ihre Position, als das elektromagnetische Feld um ihn aufgebaut wurde und sein Gehirn durchflutete. Er sah den Raum um sich: darin ein großer Schreibtisch, auf dem noch die letzten Pläne und Berechnungen lagen, ein schmales Bett, auf dem er manchmal genächtigt hatte, ein hoher schmaler Schrank mit Werkzeug, Messgerät und weiteren Unterlagen, direkt vor ihm die innere Tür, dick und mit Riegeln ringsum, und an der Decke eine einfache Lampe.
Als letzter Punkt der Aktivierungssequenz würde das Licht ausgeschaltet werden.
Die Birne flackerte und verlosch. Er dachte:
Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert, ich hätte sie fester eindrehen sollen. Die Birne hat geflackert...
–
Martine Belafonte hatte von einem Wanderer, der sich verirrt hatte, eine interessante Geschichte gehört: dass es in einer kleinen unscheinbaren Klippe im Wald, an irgendeinem Hang irgendeines Berges, einen Tunnel gäbe, der mit einer alten, massiven Tür endet. Sofort hatte die Archäologin Unterlagen und alte militärische Karten nach Bunkern durchsucht, aber keinen gefunden. Das stachelte sie an, die mysteriöse Tür im Berg zu suchen.
Sie hatte sie tatsächlich ausfindig gemacht, und nachdem sie ihren Fund veröffentlicht hatte, hatte sie staatliche Gelder zur Verfügung gestellt bekommen. Jetzt konnte sie mit einem kleinen Team und der nötigen Ausrüstung zu dem Tunnel zurückkehren und die alte Panzertür an dessen Ende aufbrechen. Morgens waren sie angekommen, am Mittag stand sie endlich vor dem offenen Durchgang.
Die Tür lag davor im Tunnel. Sie war einen halben Meter mächtig und auf der Rückseite von zwei Bolzen auf jeder Seite festgehalten worden – sie hatten die Wände daneben auf-stemmen müssen, um die Tür wegzubewegen. Die Stelle, an der die Tür gewesen war, war ein schwarzes Loch.
Martine hob ihre Lampe und trat ein.
Sie musste an die Atommüllendlager denken, wo man sich immer fragte: Wie halten wir die Menschen in der Zukunft davon ab, hier hin zu gehen? Welche Zeichen würden sie verstehen, und woran würden sie sich halten? Sie dachte auch an die Grabkammer Tutanchamuns: die, die als erste dort eingedrungen waren, starben später an Lungentumoren, ausgelöst von Sporen eines tödlichen Schimmelpilzes aus dem Grab, von dem immernoch nicht klar war, ob er sich dort selbst gebildet hatte oder von den ägyptischen Priestern dort platziert worden war. Sie zog sich die Gasmaske über Nase und Mund.
Hinter zwei weiteren Türen fand sie schließlich einen großen, holzvertäfelten Raum, der fast zur Gänze von einer komplexen Maschine beansprucht wurde. Davor waren nur ein Schreib-tisch, ein Schlafplatz und ein Schrank. Aber vorne, an der Spitze der Maschine, stand, an eine Art Liege gelehnt und den Kopf in eine Hufeisenform eingepasst, ein Mann, der starr zur Decke blickte.
Er war überhaupt nicht mumifiziert – gerade so, als habe er sich eben erst dorthin gestellt. Martine hielt inne und senkte die Laterne. Er starrte zur Deckenlampe… und jetzt sah sie, dass er blinzelte. Sie beobachtete ihn, und er blinzelte. Alle sechs Sekunden. Sie näherte sich ihm. Die Spulen um seinen Kopf schienen ein starkes Magnetfeld zu erzeugen, es verdrehte die Gasmaske und zog an ihr. Sie nahm sie herunter, als der Mann plötzlich die Augen zu ihr drehte und sie ansah. Er atmete schwach.
Erschrocken wich sie zurück. Er sah weiter geradeaus, dann wieder hoch. Dann fing er an, sich zu bewegen: er machte einen Schritt nach vorne von der Liege weg, streckte den Arm nach der Deckenlampe hoch, griff die Glühbirne und drehte sie leicht, während er die Lampe unentwegt anstarrte. Martine wich zurück und beobachtete ihn stumm. Nachdem die Birne ganz fest war, knickten die Beine des Mannes ein und seine Hand rutschte von der Birne ab. Seine Knie prallten auf den Boden, dann schlug er der Länge nach hin. Martine ließ die Lampe fallen und lief nach draußen.
–
Jonathan sah wieder. Es war anstrengend, aber er sah. Direkt vor seinen Augen eine hölzerne Fläche, einen Boden. An verschiedenen Stellen seines Körpers spürte er den Druck desselben Bodens auf der Haut. Er sah außerdem Furchen und kleine Erhebungen auf den Brettern, die nach rechts kleine Schatten warfen. Die Schatten wurden wiederum von anderen Dellen und Puckeln verformt. Sie bildeten wilde Muster… er betrachtete die Muster. Sie waren interessant. An einer Fuge zwischen den Dielen verschwanden die Schatten alle im Dunkel. Was wäre wohl darunter? Steinplatten, und dann Erdreich, er wusste es. Aber er genoss es, den Blick an den kleinen Schatten und Unebenheiten entlang gleiten zu lassen, in die Fuge hinein, und er genoss den Zauber dieses Dunkels, in das sie verschwanden. Er dachte an die Zimmerbeleuchtung, die Glühbirne an der Decke. Von ihrem Platz aus könnte sie in die Fuge hineinleuchten. Aber es war gut, dass sie aus war. Es hätte den Zauber kaputt gemacht.
Er erinnerte sich: er hatte die Glühbirne festgedreht. Was für ein Unsinn, sie hatte doch völlig ausreichend funktioniert! Und was für ein Unsinn, 100 Jahre in der Dunkelheit zu stehen und den Verstand an einem solchen Gedanken zu verschwenden wie „Ich muss die Lampe noch festdrehen“!
Der Verstand arbeitete jetzt wieder. Und das war eine Wonne, Grund genug um ihn auch arbeiten zu lassen; um hinaus-zugehen, und das Leben zu beginnen.
Er platzierte nacheinander die fünf Fingerspitzen, dann die Finger und dann die Handfläche seiner rechten Hand neben sich auf dem Holz und stemmte sich hoch. Er sah am Ende seines Tunnels Licht schimmern. Tageslicht.
Jonathan ging durch den Tunnel, trat nach draußen und atmete lange Zeit ein. Er lächelte.