Sie tanzt mit den Verdammten, den Toten. Jeden Vollmond setzt sie sich ins Auto und fährt zum Wald raus, wandert dann durch bis in das Gebiet, wo keine Wege sind, und wo auch die Jäger sich nicht auskennen, weil das Wild es scheut, sich dort aufzuhalten.
Da gibt es eine Lichtung, deren Rand von einem Kreis uralter Menhire gebildet wird, mit fünf höheren Steinen in der Mitte.
Hier zeigen sich die Verdammten: diejenigen, die in ihrem Leben so viel Schrecken verbreitet, so viel Hass auf sich geladen haben, dass die Rachsucht ihrer Mitmenschen ihnen verboten hat, diese Welt zu verlassen, als sie starben. Vergebung könnte sie erlösen, denn reuig sind sie alle, aber die meisten von ihnen sind schon viel zu lange tot und längst vergessen.
In jeder Vollmondnacht kommen die Verdammten heraus, und seit dem letzten Jahreswechsel kommt auch sie dann her. Am Anfang rief sie immer einen Namen, inzwischen spricht sie nicht mehr. Sie hat Musik dabei, geht in die Umarmung mit einer der schattenhaften Erscheinungen und tanzt die ganze Nacht. Ich weiß nicht, ob es ihr Spaß macht, aber für uns ist es ein Ereignis von solcher Schönheit und Größe, dass es bis zum nächsten Mal – ein halbes Jahr lang – in einem nachhallt und über die Verdammnis hinwegtröstet.
Wenn der Morgen graut und wir einer nach dem anderen verschwinden, macht sie sich wieder auf den Weg zur Stadt, diesem fernen Ort mit seinen brennenden Lichtern und seinem Lärm, der, wenn der Wind falsch steht, bis zu uns her weht und unsere Ohren versengt. Ich habe schon oft, unsichtbar, an der Straße gestanden und ihren Rücklichtern nachgesehen, aber ich bin nicht drauf gekommen, warum sie immer wieder hierher kommt.
Vielleicht könnten wir in der Stadt Erlösung finden, aber niemand von uns traut sich, sich ihr zu nähern.
Es ist ein klarer Winter. Weihnachten hatte es geschneit, und der Schnee liegt noch. Der Mond ist dreiviertel-zunehmend, in einer solchen Nacht kann einer von uns raus, und heute bin ich dran. Ich trete aus dem Menhir, streiche den Schnee von ihm herunter und gehe auf den inneren Kreis zu, als ich sie entdecke.
Zusammengekauert sitzt sie im Schnee, den Rücken am höchsten der Steine. Die Beine hat sie angezogen und eine Hand liegt über ihre Füße, der andere Arm auf den Knien und der Kopf darauf. Sie rührt sich nicht. Auf der anderen Seite, neben ihr im Schnee, liegt ein Messer. Ein Scalpell, an der Spritze mit Blut benetzt. Es muss ihr aus der Hand gefallen sein, als sie an dem Menhir niedersank. Ihre ganze Brust und Bauch sind getränkt in sattem Rot, beginnend bei einem Punkt an ihrem Hals, den ich nicht sehen kann. Sie ist tot. Ich gehe neben ihr in die Hocke und lege meinen Arm um ihre kalten Schultern. Die Trauer um ihr junges Leben lässt mich wieder etwas fühlen, und ich habe für einen Moment wieder eine Ahnung davon, wie es war, am Leben zu sein.
Ihre Schultern bewegen sich. Dann hebt sie den Kopf, und sieht mir in die Augen. Ich sehe den Schnitt des Messers an der linken Halsader, von dem das Blut ausgeht. Sie sieht mich, und nicht mehr nur als Schatten, sondern so klar, wie die Menschen sich untereinander sehen. Und wie wir uns untereinander sehen.
Wie kann das sein? Was soll sie denn in der Stadt so Grausames getan haben, dass es aufwiegt, was sie für uns getan hat? Wie soll sie in irgendjemandem einen solchen Hass gepflanzt haben, dass dessen Wille, ihr den Tod zu verweigern, unser aller Wunsch übertrifft? Unseren, die wir es doch wissen, dass niemand, nicht einmal jemand von den Monstern wie wir sie waren, die Verdammnis verdient; unseren, denen sie die Verdammnis ohne Aussicht auf eigenen Nutzen in jeder Vollmondnacht versüßt hat?
So etwas kann es nicht geben. Und doch ist sie hier: in dem Moment, in dem die Türe, diese Welt zu verlassen, offen stand, kam sie nicht hindurch. Diese unbeschreibliche Ungehörigkeit macht mich so wütend, dass ich auf den mittleren Platz hervortrete und brülle, dass der Schnee von den Bäumen fällt und alle anderen geweckt werden. Der Mond füllt sich, als Stück für Stück die weißen Hauben von den Steinen herunterbrechen und jeder der Verdammten erscheint und aus einem der Steine hervortritt.
Und sie erhebt sich, lässt ihren Körper zurück, und beginnt, die Reihe der Geister abzuschreiten. Jedem sieht sie in die Augen, dann wendet sie sich ab und geht zum nächsten. Die ganze Runde. Sie wird immer nervöser dabei; und als sie wieder bei mir angekommen ist, sehe ich die ganze Geschichte in ihrem Auge:
Es war vor einem Jahr, an Sylvester, als sie mit Freunden in irgendeinem Club versuchte, in Lärm und Rausch die Ereignisse des vergangenen Jahres abzuschütteln, das der Schuldige zu ihr kam. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit gehabt und in diesen Jahr waren sie wieder zusammengekommen, aber er hatte sie erstickt, so dass sie ihn wieder von sich hatte stoßen müssen. Und jetzt, an Sylvester, kam er schon wieder, mit verzweifeltem Blick, und flehte um einen letzten Tanz.
Sie aber blieb standhaft und schickte ihn weg, woraufhin der feige Hund sich noch auf der Toilette desselben Clubs das Leben nahm, und ihr an der Wand eine Botschaft hinterließ, die sich in ihr Gedächtnis brannte und nicht mehr losließ, ein ganzes Jahr lang. Sein Name war es gewesen, den sie gerufen hatte, als sie das erste Mal zu unserer Stätte kam. Seine Umarmung hatte sie gesucht, jedes Mal, das sie mit einem der kalten schwarzen Schatten tanzte, um sich von seiner Abschiedsbotschaft zu befreien, um ihn zu erlösen – und damit ihr eigenes Leben.
Aber er ist keiner von uns. Er ist einfach richtig gestorben damals, und als sie unsere Reihe abschritt, musste sie erkennen, dass ihre ständigen Ausflüge zu uns vergeblich gewesen waren. Und dass ihre selbstgewählte Verdammnis vergeblich war: denn es es war ihre Ent-scheidung gewesen. Sie hatte am Jahrestag ihres Mordes – so nannte sie es in ihren Gedanken – unsere Stätte aufgesucht, sich die Kehle geöffnet und im Schnee auf den Tod gewartet, um diesen klaren Blick auf uns zu gewinnen, mit dem sie uns jetzt der Reihe nach taxiert hatte, nur um festzustellen, dass er nie unter uns gewesen war.
Sie kehrt zurück zu ihrem Körper und legt sich wieder hinein. Wir alle wissen, dass das nichts bringt. Ich selbst bin ein ganzes Jahr lang in meinem Körper geblieben, während Abergläubische ihn vergifteten, pfählten, zerteilten und verbrannten, aber das alles bringt nichts. Die Tür, um diese Welt zu verlassen, stand nur einen Augenblick lang offen, und ich wurde nicht durchgelassen.
Sie hat sie selbst wieder zugeschlagen.
Langsam beginnt der Schnee wieder zu fallen und legt sich auf ihre Schultern und ihr Haar, und wir beratschlagen. Kann sie vielleicht in die andere Richtung, zurück? Nichts hält sie hier; und wenn sie von dort zurückgewünscht wird? Wir sind uns einig, dass die Verdammnis das falsche Schicksal für sie ist, und wollen alles versuchen, um sie vor unserem Zustand zu bewahren.
Der Mond hat sich gefüllt. Es ist weit nach Mitternacht, und ihr Körper ist nur mehr ein Hügel im Weiß, als wir ihn mit vereinten Kräften anheben. Die Schneedecke reißt, und wir tragen ihn zur Straße, und die Straße entlang in Richtung Stadt.
Das Blut auf ihrer Kleidung ist schon gefroren, als wir durch die äußeren Wohngebiete kommen. Gleichförmige Häuser hinter gleichförmigen Gärten an geräumten Gehwegen, die aber zuschneien, wenn wir kommen, denn wir bringen die Kälte unserer neuen Heimat mit. Die Straßenlaternen brennen auf unserer Haut, aber fallen aus in unserem Schneesturm. Unser Ziel ist dieser Club, die Mitte des größten Lärms und Lichts.
Dort hat man den großen Floor schon geschlossen und wischt grade durch, auf dem Kleinen nebenan ist noch Tanz und Musik. Die Tür ist für uns verschlossen, aber wir rütteln daran, was die Angestellten aus der leeren Halle nach vorne lockt. Andere von uns heben sie aufs Dach hoch, reißen an den Schindeln oder türmen in seiner Mitte den Schnee auf, während uns allen die Musik von unten in den Ohren brennt und das Licht auf der Haut, und das Lachen der Feiernden uns verspottet, indem es zeigt, wie reich das Leben gewesen ist; wie schön die Welt sein kann, die wir mit unseren Taten damals nur mit Schrecken und Leid erfüllt haben. Schließlich gibt einer der Dachbalken nach, und sie stürzt in einem Haufen von Schnee auf den leeren Dancefloor hinab.
Ein Flügel der Tür zum andereren Floor geht auf. Wir ziehen uns in die Schatten am Rand des Raumes zurück. Eine Mitarbeiterin, einen Lappen in der Hand, kommt herein. Sie sieht das Loch in der Decke und den Körper im Schnee darunter, ruft etwas nach draußen und läuft dann auf ihn zu. Sie ist kalt, von einem flachen Schnitt an ihrer Kehle zieht sich das rote Band bis zur Hüfte runter. Die Mitarbeiterin legt ihr eine Hand auf die Stirn, dann zwei Finger an den Hals – einer von uns will eingreifen, aber ich halte ihn zurück – und spricht sie an: „Marie?“
Marie schlägt die Augen auf.
Sie steht auf und sieht sich in Raum um, und wir treten vor. Ich verbeuge mich und deute auf die Ausgangstür, von wo aufgeregte Stimmen hereinschallen. Sie lächelt uns zu, dreht sich um und geht, auf die Barfrau gestützt, heraus. Draußen ist großer Aufruhr. Geh!
Geh leben! – Wir bleiben zurück, und beginnen, einer nach dem anderen, zu verblassen. Ihre Dankbarkeit hat die Tür, die sich für uns vor Jahren, teils Jahrhunderten, verschlossen hat, wieder geöffnet, und jeder von uns geht jetzt hindurch.
Ich werde noch ein bisschen warten, bis sie mit ihrem Leben fertig ist. Ich werde mich ihr nicht zeigen, aber für den Fall, dass sie noch einmal Hilfe braucht, will ich da sein.
Da gibt es eine Lichtung, deren Rand von einem Kreis uralter Menhire gebildet wird, mit fünf höheren Steinen in der Mitte.
Hier zeigen sich die Verdammten: diejenigen, die in ihrem Leben so viel Schrecken verbreitet, so viel Hass auf sich geladen haben, dass die Rachsucht ihrer Mitmenschen ihnen verboten hat, diese Welt zu verlassen, als sie starben. Vergebung könnte sie erlösen, denn reuig sind sie alle, aber die meisten von ihnen sind schon viel zu lange tot und längst vergessen.
In jeder Vollmondnacht kommen die Verdammten heraus, und seit dem letzten Jahreswechsel kommt auch sie dann her. Am Anfang rief sie immer einen Namen, inzwischen spricht sie nicht mehr. Sie hat Musik dabei, geht in die Umarmung mit einer der schattenhaften Erscheinungen und tanzt die ganze Nacht. Ich weiß nicht, ob es ihr Spaß macht, aber für uns ist es ein Ereignis von solcher Schönheit und Größe, dass es bis zum nächsten Mal – ein halbes Jahr lang – in einem nachhallt und über die Verdammnis hinwegtröstet.
Wenn der Morgen graut und wir einer nach dem anderen verschwinden, macht sie sich wieder auf den Weg zur Stadt, diesem fernen Ort mit seinen brennenden Lichtern und seinem Lärm, der, wenn der Wind falsch steht, bis zu uns her weht und unsere Ohren versengt. Ich habe schon oft, unsichtbar, an der Straße gestanden und ihren Rücklichtern nachgesehen, aber ich bin nicht drauf gekommen, warum sie immer wieder hierher kommt.
Vielleicht könnten wir in der Stadt Erlösung finden, aber niemand von uns traut sich, sich ihr zu nähern.
Es ist ein klarer Winter. Weihnachten hatte es geschneit, und der Schnee liegt noch. Der Mond ist dreiviertel-zunehmend, in einer solchen Nacht kann einer von uns raus, und heute bin ich dran. Ich trete aus dem Menhir, streiche den Schnee von ihm herunter und gehe auf den inneren Kreis zu, als ich sie entdecke.
Zusammengekauert sitzt sie im Schnee, den Rücken am höchsten der Steine. Die Beine hat sie angezogen und eine Hand liegt über ihre Füße, der andere Arm auf den Knien und der Kopf darauf. Sie rührt sich nicht. Auf der anderen Seite, neben ihr im Schnee, liegt ein Messer. Ein Scalpell, an der Spritze mit Blut benetzt. Es muss ihr aus der Hand gefallen sein, als sie an dem Menhir niedersank. Ihre ganze Brust und Bauch sind getränkt in sattem Rot, beginnend bei einem Punkt an ihrem Hals, den ich nicht sehen kann. Sie ist tot. Ich gehe neben ihr in die Hocke und lege meinen Arm um ihre kalten Schultern. Die Trauer um ihr junges Leben lässt mich wieder etwas fühlen, und ich habe für einen Moment wieder eine Ahnung davon, wie es war, am Leben zu sein.
Ihre Schultern bewegen sich. Dann hebt sie den Kopf, und sieht mir in die Augen. Ich sehe den Schnitt des Messers an der linken Halsader, von dem das Blut ausgeht. Sie sieht mich, und nicht mehr nur als Schatten, sondern so klar, wie die Menschen sich untereinander sehen. Und wie wir uns untereinander sehen.
Wie kann das sein? Was soll sie denn in der Stadt so Grausames getan haben, dass es aufwiegt, was sie für uns getan hat? Wie soll sie in irgendjemandem einen solchen Hass gepflanzt haben, dass dessen Wille, ihr den Tod zu verweigern, unser aller Wunsch übertrifft? Unseren, die wir es doch wissen, dass niemand, nicht einmal jemand von den Monstern wie wir sie waren, die Verdammnis verdient; unseren, denen sie die Verdammnis ohne Aussicht auf eigenen Nutzen in jeder Vollmondnacht versüßt hat?
So etwas kann es nicht geben. Und doch ist sie hier: in dem Moment, in dem die Türe, diese Welt zu verlassen, offen stand, kam sie nicht hindurch. Diese unbeschreibliche Ungehörigkeit macht mich so wütend, dass ich auf den mittleren Platz hervortrete und brülle, dass der Schnee von den Bäumen fällt und alle anderen geweckt werden. Der Mond füllt sich, als Stück für Stück die weißen Hauben von den Steinen herunterbrechen und jeder der Verdammten erscheint und aus einem der Steine hervortritt.
Und sie erhebt sich, lässt ihren Körper zurück, und beginnt, die Reihe der Geister abzuschreiten. Jedem sieht sie in die Augen, dann wendet sie sich ab und geht zum nächsten. Die ganze Runde. Sie wird immer nervöser dabei; und als sie wieder bei mir angekommen ist, sehe ich die ganze Geschichte in ihrem Auge:
Es war vor einem Jahr, an Sylvester, als sie mit Freunden in irgendeinem Club versuchte, in Lärm und Rausch die Ereignisse des vergangenen Jahres abzuschütteln, das der Schuldige zu ihr kam. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit gehabt und in diesen Jahr waren sie wieder zusammengekommen, aber er hatte sie erstickt, so dass sie ihn wieder von sich hatte stoßen müssen. Und jetzt, an Sylvester, kam er schon wieder, mit verzweifeltem Blick, und flehte um einen letzten Tanz.
Sie aber blieb standhaft und schickte ihn weg, woraufhin der feige Hund sich noch auf der Toilette desselben Clubs das Leben nahm, und ihr an der Wand eine Botschaft hinterließ, die sich in ihr Gedächtnis brannte und nicht mehr losließ, ein ganzes Jahr lang. Sein Name war es gewesen, den sie gerufen hatte, als sie das erste Mal zu unserer Stätte kam. Seine Umarmung hatte sie gesucht, jedes Mal, das sie mit einem der kalten schwarzen Schatten tanzte, um sich von seiner Abschiedsbotschaft zu befreien, um ihn zu erlösen – und damit ihr eigenes Leben.
Aber er ist keiner von uns. Er ist einfach richtig gestorben damals, und als sie unsere Reihe abschritt, musste sie erkennen, dass ihre ständigen Ausflüge zu uns vergeblich gewesen waren. Und dass ihre selbstgewählte Verdammnis vergeblich war: denn es es war ihre Ent-scheidung gewesen. Sie hatte am Jahrestag ihres Mordes – so nannte sie es in ihren Gedanken – unsere Stätte aufgesucht, sich die Kehle geöffnet und im Schnee auf den Tod gewartet, um diesen klaren Blick auf uns zu gewinnen, mit dem sie uns jetzt der Reihe nach taxiert hatte, nur um festzustellen, dass er nie unter uns gewesen war.
Sie kehrt zurück zu ihrem Körper und legt sich wieder hinein. Wir alle wissen, dass das nichts bringt. Ich selbst bin ein ganzes Jahr lang in meinem Körper geblieben, während Abergläubische ihn vergifteten, pfählten, zerteilten und verbrannten, aber das alles bringt nichts. Die Tür, um diese Welt zu verlassen, stand nur einen Augenblick lang offen, und ich wurde nicht durchgelassen.
Sie hat sie selbst wieder zugeschlagen.
Langsam beginnt der Schnee wieder zu fallen und legt sich auf ihre Schultern und ihr Haar, und wir beratschlagen. Kann sie vielleicht in die andere Richtung, zurück? Nichts hält sie hier; und wenn sie von dort zurückgewünscht wird? Wir sind uns einig, dass die Verdammnis das falsche Schicksal für sie ist, und wollen alles versuchen, um sie vor unserem Zustand zu bewahren.
Der Mond hat sich gefüllt. Es ist weit nach Mitternacht, und ihr Körper ist nur mehr ein Hügel im Weiß, als wir ihn mit vereinten Kräften anheben. Die Schneedecke reißt, und wir tragen ihn zur Straße, und die Straße entlang in Richtung Stadt.
Das Blut auf ihrer Kleidung ist schon gefroren, als wir durch die äußeren Wohngebiete kommen. Gleichförmige Häuser hinter gleichförmigen Gärten an geräumten Gehwegen, die aber zuschneien, wenn wir kommen, denn wir bringen die Kälte unserer neuen Heimat mit. Die Straßenlaternen brennen auf unserer Haut, aber fallen aus in unserem Schneesturm. Unser Ziel ist dieser Club, die Mitte des größten Lärms und Lichts.
Dort hat man den großen Floor schon geschlossen und wischt grade durch, auf dem Kleinen nebenan ist noch Tanz und Musik. Die Tür ist für uns verschlossen, aber wir rütteln daran, was die Angestellten aus der leeren Halle nach vorne lockt. Andere von uns heben sie aufs Dach hoch, reißen an den Schindeln oder türmen in seiner Mitte den Schnee auf, während uns allen die Musik von unten in den Ohren brennt und das Licht auf der Haut, und das Lachen der Feiernden uns verspottet, indem es zeigt, wie reich das Leben gewesen ist; wie schön die Welt sein kann, die wir mit unseren Taten damals nur mit Schrecken und Leid erfüllt haben. Schließlich gibt einer der Dachbalken nach, und sie stürzt in einem Haufen von Schnee auf den leeren Dancefloor hinab.
Ein Flügel der Tür zum andereren Floor geht auf. Wir ziehen uns in die Schatten am Rand des Raumes zurück. Eine Mitarbeiterin, einen Lappen in der Hand, kommt herein. Sie sieht das Loch in der Decke und den Körper im Schnee darunter, ruft etwas nach draußen und läuft dann auf ihn zu. Sie ist kalt, von einem flachen Schnitt an ihrer Kehle zieht sich das rote Band bis zur Hüfte runter. Die Mitarbeiterin legt ihr eine Hand auf die Stirn, dann zwei Finger an den Hals – einer von uns will eingreifen, aber ich halte ihn zurück – und spricht sie an: „Marie?“
Marie schlägt die Augen auf.
Sie steht auf und sieht sich in Raum um, und wir treten vor. Ich verbeuge mich und deute auf die Ausgangstür, von wo aufgeregte Stimmen hereinschallen. Sie lächelt uns zu, dreht sich um und geht, auf die Barfrau gestützt, heraus. Draußen ist großer Aufruhr. Geh!
Geh leben! – Wir bleiben zurück, und beginnen, einer nach dem anderen, zu verblassen. Ihre Dankbarkeit hat die Tür, die sich für uns vor Jahren, teils Jahrhunderten, verschlossen hat, wieder geöffnet, und jeder von uns geht jetzt hindurch.
Ich werde noch ein bisschen warten, bis sie mit ihrem Leben fertig ist. Ich werde mich ihr nicht zeigen, aber für den Fall, dass sie noch einmal Hilfe braucht, will ich da sein.